Eine gerechtere Welt?

Der Prophet Amos und das christliche Mandat für soziale Gerechtigkeit

Auf den ersten Blick: Ist es nicht erfreulich, wenn biblische Texte oder gar ganze Bücher der Bibel in unserer Gesellschaft fokussiert und aufgenommen werden – wie etwa der Prophet Amos im Religionsunterricht ab Sekundarstufe I (5.–10. Klasse)¹? Amos ist jedenfalls ein beliebtes Unterrichtsthema, wenn es um die soziale Gerechtigkeit geht. Armut und Reichtum sowie die sich daraus ergebenden Spannungen sind seit jeher in menschlichen Gesellschaften ein Problem gewesen, und immer wieder gibt es Einzelne, die sich vorbildlich als Kämpfer für mehr soziale Gerechtigkeit engagieren. Letzteres gilt als gutes Aushängeschild, das zu Ehre und Ansehen führt, z. B. auch für Politiker, und so mancher schon wurde posthum als ein solcher Kämpfer geehrt, denen man zweifellos diesbezüglich einige Verdienste nachweisen kann². Und für Christen ist doch ein Eintreten für soziale Gerechtigkeit obligatorisch und gehört zur alltäglichen Pflicht, so der Tenor der meisten religionsunterrichtlichen Adaptionen dieses biblischen Propheten.

Aber wird man ihm damit schon gerecht? Ist das wirklich alles bzw. der Kern dessen, was uns dieses alte biblische Buch heute vermitteln kann?

Worum geht es Gott – damals wie heute?

Zweifellos geht es Amos in seiner Botschaft auch um soziale Gerechtigkeit. Und diese Botschaft kommt ja schließlich von Gott. Doch steht sie in einem Zusammenhang, aus dem man sie nicht lösen kann, ohne dabei Entscheidendes zu verlieren. Vergegenwärtigen wir uns das kurz: Kein anderer als der ewige Schöpfer-Gott selbst hat sich ein einziges Volk aus vielen anderen Völkern erwählt, um an diesem ein „Exempel“ zu statuieren: nämlich zu zeigen, wie es sich auswirkt, wenn man nach seinen Gesetzen lebt und ihm dient, letztlich mit dem Ziel, damit auch anderen Völkern den Weg zu ihm und unter seine Herrschaft zu weisen. Doch dieses Projekt geht weitgehend schief. Der gute Gott und seine guten Gesetze rücken immer mehr in den Hintergrund. Statt hell und glanzvoll zu leuchten, macht sich im Volk Gottes mehr und mehr Dunkelheit breit, weil man sich nicht mehr nach Gott und seinen Gesetzen, sondern wie alle anderen Völker auch nach dem sündigen Begehren ausrichtet, das allgemein die Menschheit erfasst hat und sich aufgrund der Trennung von Gott in schlimmster Form und somit auch in größter sozialer und schreiender Ungerechtigkeit auswirkt. Der eigentliche Punkt jedoch, um den es geht, um die Auswirkungen der Sünde zu überwinden, ist Amos‘ Ruf zur Umkehr zu Gott: „Sucht mich und lebt! … Sucht den HERRN und lebt … Sucht das Gute und nicht das Böse, damit ihr lebt! … Hasst das Böse und liebt das Gute …“ (Amos 5,4.6.14.15). Zuerst ruft Gott zu sich (!) und erst dann dazu auf, im persönlichen Leben und in der Gesellschaft etwas zu verändern. Diese Reihenfolge einzuhalten ist wichtig, denn ohne Gott läuft auch der noch so engagierte Einsatz für mehr soziale Gerechtigkeit letztlich ins Leere. Heute geht man gleich zu dem Zweiten über, ohne über das Erste überhaupt nur im Ansatz aufzuklären. Aufrufe zur Weltverbesserung sind populär, verschleiern jedoch, wo das eigentliche Problem und dessen Lösung liegt: in der demütigen und reuigen Umkehr zu Gott. Auch dazu muss aufgerufen werden, um dauerhaft etwas zum Guten in dieser Welt zu verändern.

Was bedeutet das für die Gemeinde?

Vielerorts beobachtet man heute ein Drehen um sich selbst und die eigenen Belange. Man ist um vieles bemüht, bleibt aber damit oft bei sich selbst stehen. Die (möglichst perfekte?) Organisation von Gemeinde wurde als Herausforderung entdeckt – und verliert sich mehr und mehr im Kampf um äußere Details. Damit geht oft auch der Blick für eine weitergehende Verantwortung für die Menschen um uns herum verloren.

Es geht nicht um gottesdienstliche Formen oder Handlungen und deren fortschreitende Optimierung (vgl. Amos 5,21-23), sondern eine persönliche innere Neuausrichtung auf Gott ist gefragt. Hin und wieder hat Israel auch kollektiv solche Wandlung erlebt, aber sie beginnt immer bei Einzelnen persönlich. Erweckung nennt man das im christlichen Kontext. Und eine solche tut auch heute Not. Sie gewinnt aber nur in der Hinwendung zu Gott an Kraft – verbunden mit der Einsicht über einen vielleicht schon länger praktizierten eigenwilligen Kurs – und hat nur dann wirklich Auswirkungen in die Welt hinein, wenn wieder neu auf Gott gehört wird, um seinen Willen zu tun – Besinnung, Umkehr und Neuausrichtung, ganz im Sinne der Botschaft von Amos.

Das Leben in der eigenen Blase

Wie sehr man in seiner eigenen Blase lebt und zufrieden damit ist, habe ich kurz vor Weihnachten wieder erleben müssen. Da taucht plötzlich ein hilfsbedürftiger muslimischer Mitbürger beim Versammlungsgebäude auf, der sich nach der Möglichkeit, hier eine Predigt zu hören, erkundigen will. Im Gespräch mit ihm (als Hausmeister sind wir da meist die ersten Ansprechpartner) stellt sich schnell heraus, dass er sowohl finanziell als auch seelisch derzeit in einer Notlage ist: arbeitslos, getrennt von Frau und Familie, mit leerer Geldbörse ohne Möglichkeit, sich mit dem Notwendigsten zu versorgen. Ein vorrangiges soziales Anliegen also!? Im Nachhinein bin ich über erste innere Reaktionen bei mir sehr erschrocken: Warum hat er es so weit kommen lassen? Wieso werden wir Christen immer erst angesprochen, wenn es den Leuten dreckig geht? Wie unbequem ist es doch, gerade jetzt mit so einem Fall konfrontiert zu werden! usw. – Ich habe mich nachträglich ziemlich geschämt, wie weit ich innerlich doch entfernt davon bin, praktisch in Not zu helfen, ja, für solche Fälle allzeit bereit zu sein, unabhängig davon, was ich gerade selbst erlebe. Die eigene Blase eines vermeintlich frommen und sozial intakten Lebens, in dem es aber an Liebe zu den Menschen mangelt, war erstmal geplatzt. Bis heute lässt mich dieses Erlebnis nicht los, auch wenn ich dann mit dem Mann noch zum Discounter gegangen bin, damit er sich dort auf meine Kosten mit dem Notwendigsten eindecken konnte. Das war sicherlich ein zutiefst unangenehmes, aber auch wieder einmal überfälliges Lehrstück für mich. Es ging hier zwar nicht direkt um einen Kampf um soziale Gerechtigkeit, aber eben doch um die Einstellung, sich für etwas zuständig zu fühlen, was man nicht einfach dem Zufall oder dem Staat überlassen sollte.

Kämpfen für soziale Gerechtigkeit – wie geht das praktisch?

Sich den Blick weiten lassen für die Not der anderen und die Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft und beides so gut wie möglich abzumildern, anstatt dies nur anderen zu überlassen – das muss nicht unserem vorrangigen Auftrag, den Menschen das Evangelium zu bringen, zuwiderlaufen. Immer wieder ist dieses Miteinander beider Anliegen in der Geschichte der Christenheit einseitig aufgelöst worden – mal zu dem einen hin, mal zu dem anderen – und hat sich dann jeweils sogar zu einem Extrem entwickelt. Vielmehr ist Aufmerksamkeit für beides geboten, und in beiden Fällen muss eben ggf. etwas nachgebessert werden.

Dem Extrem der Ausschließlichkeit entgeht man, wenn man beides an den bindet, der ursprünglich den Auftrag zu beidem gegeben und dazu auch die Mittel bereitgestellt hat: Gott schenkt uns Reichtum und Wohlhaben, damit wir anderen davon abgeben können. Gott schenkt uns Glauben und Erlösung durch Jesus Christus, damit wir anderen davon glaubhaft weitersagen können. Gott schenkt uns den Verstand, um Ungerechtigkeiten zu entdecken und Lösungen dafür zu finden. Wenn wir solche Aktivitäten von ihm unabhängig und zu unserer eigenen Sache machen, dann geht das früher oder später schief oder entwickelt sich zu dem o. g. einseitigen Extrem, das die Menschen entweder im inneren Unglauben oder im äußeren Elend belässt.

Ein Ausblick

Die Aufgabe, diese Welt zu einer sozial völlig gerechten Welt zu machen, ist zu groß für uns. Alles soziale Handeln, so wichtig es ist, kann deshalb nur ein Hinweis darauf sein, dass Gott selbst eine solche Welt einmal schaffen wird:
„Wir erwarten aber nach seiner Verheißung neue Himmel und eine neue Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt“ (2Petr 3,13). Diesem ausdrücklichen Ziel Gottes mit den Menschen sind wir zweifellos auch jetzt schon als Christen verpflichtet. Wir setzen es aber nicht deshalb praktisch um, weil wir um jeden Preis die bestehende Welt verbessern wollen, sondern weil wir auf eine bessere Welt hoffen, die Gott schließlich herbeiführen wird und zu der wir von unserer innerlichen Veränderung her schon jetzt gehören.

 

Anmerkungen:

1 Siehe z. B. https://www.isb.bayern.de/download/13245/04lp_er_9_m.pdf oder https://www.auer-verlag.de/media/ntx/auer/sample/07835DA8_Musterseite.pdf oder https://www.schulentwicklung.nrw.de/materialdatenbank/material/download/2851
2 Siehe https://www.linksfraktion-hessen.de/presse/mitteilungen/detail-pressemitteilungen/news/zum-tod-von-norbert-bluem-kaempfer-fuer-soziale-gerechtigkeit-und-leidenschaftlicher-gewerkschafter/

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