Sich absondern oder die Türen öffnen?

Wie man Menschenliebe und Gottesliebe in Einklang bringt

Nach der Einweihung der Stadtmauern und Tore Jerusalems hat Nehemia die Stadt Jerusalem für eine Weile verlassen. Er kehrt nach Persien zurück, um Artaxerxes, dem König, zu berichten.

Aber die Dinge laufen schlecht in Jerusalem. Die Bewohner Jerusalems verbinden sich mit ihren erklärten Todfeinden, den Ammonitern. Wahrscheinlich war es so, dass sich junge Leute in Jerusalem Ehepartner unter den Ammonitern suchten. So gewinnt die Religion der Ammoniter zunächst Einfluss in den Familien und schließlich auch in den Tempelgottesdiensten (Neh 13,1-3). Außerdem bietet der Priester Eljaschib ausgerechnet dem ammonitischen Politiker Tobija eine Zweitwohnung im Tempel an (Neh 13,4- 5). Die Stadt Jerusalem öffnet ihre Türen für menschliche Religion. Die Wahrheit Gottes wird an die Seite gedrängt.

Wie hat Nehemia nach seiner Rückkehr auf diese Vorgänge reagiert?

Türen schließen …

Nehemia holte erstens sofort die Leviten zurück, die entmutigt die Stadt verlassen hatten. Er sorgte zweitens dafür, dass die Wahrheit Gottes wieder in Vollmacht und Liebe gelehrt, erklärt und angewendet wurde. Dann stellte er die Verantwortlichen zur Rede: „Warum ist der Tempeldienst so vernachlässigt worden?“ (Neh 13,11). Nehemia ließ sich auch in keiner Weise von der Prominenz Tobijas beeindrucken. Ohne Zögern ließ er alle Besitztümer Tobijas sofort aus den Tempelräumen entfernen. Dann brachte er eigenhändig alle „Gegenstände, Speisopfer und Weihrauch wieder hinein“ (Neh 13,7-9).

Nehemia sorgte dafür, dass sich die Menschen in Jerusalem Gott neu zur Verfügung stellten und falsche Einflüsse aus ihrem Leben entfernen konnten. Er verschloss die Türen für unbiblische Einflüsse und war darin weder zögerlich noch schwankend.

Aber das ist nur eine Seite der Münze.

… und Türen öffnen

Sich Gott zur Verfügung zu stellen bedeutet auch,Türen zu öffnen und sich den Menschen des eigenen Lebensumkreises in Liebe und Erbarmen zuzuwenden. Nehemia ist auch in dieser Hinsicht Vorbild. Als er zum ersten Mal von den deprimierenden Lebensumständen in Jerusalem hörte, zeigte er eine markante Reaktion. In Nehemia 1,4 heißt es: „Als ich das hörte, setzte ich mich hin und weinte. Ich trauerte tagelang, fastete und betete zu Gott im Himmel.“ Nehemia sah das Leid der Menschen in Jerusalem vor sich und weinte. Er wurde bewegt von Erbarmen, Mitleid und Schmerz über sein Volk. Und so weinte er über sein Volk und dessen schweren, an Brüchen und Verwundungen so reichen Weg. Es waren keine Krokodils-Tränen bei Nehemia, keine ichhaften, theatralischen Tränen, die es ja auch gibt. Es waren Tränen aus einem starken Herzen, das den Schmerz, die Verzweiflung und die Hoffnungslosigkeit anderer Menschen zutiefst mitfühlte und
zur eigenen Sache machte.

Als Erstes immer Liebe und Erbarmen!

Daraus kann man etwas ablesen: Christen tragen Verantwortung für die Menschen in ihrem Lebensumfeld. Immer! Und wenn sie diese Verantwortung wahrnehmen, dann sind als Erstes Liebe und Erbarmen gefragt, nicht Programme und Strategien. Die haben erst an zweiter Stelle ihr Recht und ihre Bedeutung! Was aber in erster Linie gebraucht wird, sind Liebe und Erbarmen für die Menschen. Sonst werden wir nichts ausrichten!

Dabei ist klar: Menschen sind niemals nur harmlos. Sie sind nicht nur arme, bemitleidenswerte, unschuldige Opfer, denen man übel mitgespielt hat. Das sind sie auch. Sie sind aber immer auch Täter. Rebellen gegen Gott. Sünder. In jedem, auch dem bemitleidenswertesten Menschen stecken Dinge, die alles andere als harmlos sind. Das gilt für alle. Und dennoch (oder gerade darum!) sind als Erstes Liebe und Erbarmen gefragt, wenn Christen ihre Verantwortung für die ganz normalen Menschen in ihrem Lebensumfeld wahrnehmen. Als Erstes immer Liebe und Erbarmen!

Eines Abends, so wird berichtet (*), konnte William Booth nicht schlafen. So ging er aus dem Haus und machte einen ausgedehnten Nachtspaziergang durch die Straßen Londons. Und dort in der Dunkelheit sah er die Armen, die Geschlagenen, die Halbtoten, die in den Armenvierteln Londons dahinvegetierten. Der Regen peitschte nieder auf die menschlichen Wracks am Straßenrand, die dort lagen und schliefen. Als Booth nach Hause kam, sagte er zu seiner Frau: „Ich bin in der Hölle gewesen!“ – In dieser Nacht wurde in William Booth die Idee der „Salvation Army“, der „Heils-Armee“, geboren. Gott berührte das Herz des William Booth und stellte ihn in die Verantwortung für die Ärmsten der Armen. Und es begann mit Liebe und Erbarmen für die verelendeten Massen Londons.

Türen verschließen und Türen öffnen: Beides gehört zu einem Leben, das sich Jesus, dem Retter, vorbehaltlos zur Verfügung stellt.

 

Fußnote:

(*) Michael Green (Hrsg.), Illustrations for Biblical Preaching, Grand Rapids, Michigan,1990, S. 349 (Übersetzung durch den Autor)

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