Wer ist denn dieser?

Es kam anders als gedacht

Es war ein ganz normaler Tag, und es waren ganz normale Umstände. Die Männer wollten einfach auf die Seite des Sees zurück, an der ihr Heimatdorf lag. Zum Glück hatten sie ein Boot dabei, denn über den See ging es viel schneller, als zu Fuß außen herumzulaufen. Den See kannte man, und mit ausdauerndem Rudern konnte man ihn in etwas über einer Stunde überqueren, sodass die Männer rechtzeitig zum Abendessen zu Hause wären. Alle waren nach diesem langen Tag müde, aber die meisten mussten ja rudern. Nur der Anführer ihrer kleinen Gruppe konnte sich ein Nickerchen gönnen, während das Boot gemächlich seine Überfahrt begann. Nach kurzer Zeit wechselte allerdings der Wind, was um diese Jahreszeit nicht unüblich, aber von keinem der Männer erwartet worden war – jedenfalls nicht in dieser Intensität. Schon nach kurzer Zeit peitschte der Wind den sonst ruhigen See zu immer höheren Wellen auf. Das kleine Hilfssegel musste eingeholt werden, und nach kurzer Zeit mussten einige der Männer sogar damit beginnen, das von Wind und Wellen hereingespülte Wasser aus dem Boot zu schöpfen. Merkwürdig nur, dass ihr Anführer von alledem kaum etwas mitzubekommen schien. Er musste wohl sehr müde sein, dass er weiterhin schlafen konnte. Auch solche Situationen kannten die Männer, doch heute schien es irgendwie bedrohlicher. Ihre einzige Möglichkeit war, mit aller Kraft auf das immer noch schrecklich weit entfernte Ufer zuzuhalten und auf das Beste zu hoffen. Leider erwies sich die Hoffnung an diesem Tag als trügerisch, denn zunehmend wurde deutlich, dass das Boot in ernster Gefahr war. Ihr Anführer war so tief im Schlaf versunken, dass er trotz der plötzlichen Panik im Boot nicht aufwachte. Irgendwann hielten sie diese Ruhe angesichts der bedrohlichen Situation nicht mehr aus, schüttelten ihn und schrien ihn über Wind und Wellen verzweifelt an: „Sag mal, merkst du nicht, dass wir hier gerade alle absaufen? Tu doch irgendetwas und hilf uns!“

Er war anders als gedacht

Trotz des unverhohlenen Vorwurfs reagierte er völlig anders, als die Männer erwartet hatten. Denn das, was nun geschah, gehörte zu keinem möglichen Szenario in ihren Köpfen: Er erhob sich und verwendete einen ähnlich schroffen Tonfall wie den, mit dem sie ihn geweckt hatten. Doch er sprach nicht zu ihnen, sondern zu dem aufgepeitschten See. Und wie man sich hinterher einhellig erinnerte, sagte er dabei eigentlich nur zwei Worte: „Schweig! Verstumme!“ Die plötzliche Stille, die dann eintrat, war geradezu beängstigend. Sie kam so plötzlich auf, dass man fast noch sein letztes Wort nachhallen hörte. Man wusste hinterher kaum noch zu sagen, ob ihnen angesichts des lebensbedrohlichen Sturms oder seiner den Sturm bedrohenden Worte unheimlicher zumute war. Doch so viel war klar: Man hatte ihn – mal wieder – völlig unterschätzt. Und so flüsterte man sich in der plötzlichen Stille ehrfurchtsvoll hinter vorgehaltener Hand zu: „Was bitte war das? Wer ist denn dieser, dass sogar Wind und Wellen ihm gehorchen?“

Fehler 1: Jesus auf die menschliche Seite reduzieren

Die oben wiedergegebene Geschichte aus den Evangelien (Mt 8,23-27; Mk 4,35-41; Lk 8,22-25) von der Stillung des Sturms ist vielen seit der Kinderstunde bestens bekannt. Doch wenn man sich das Geschehen einmal sehr konkret vorstellt – auch in den Details, die die Evangelien meist nur andeuten, so wird deutlich: Die Situation war für die Jünger anfänglich viel normaler, als wir es heute oft wahrnehmen. Und das Bild, das die Jünger von Jesus hatten, war vor allem von seiner menschlichen Seite geprägt. Gerade deshalb waren sie vermutlich auch so schnell geneigt, ihn zu unterschätzen. Was hier geschah, ist bis heute zu beobachten. Bis heute wird Jesus unterschätzt, falsch gedeutet oder in eine falsche Schublade gesteckt. Wie es die Jünger taten. Vom Kopf her wussten die Jünger durchaus, dass Jesus der Messias war. Aber was das genau für ihren Alltag bedeutete, inwieweit Jesus tatsächlich die völlige Kontrolle über ihre Situation hatte und wie genau er sie auch durch schwere Stürme bringen würde, war ihnen nicht klar. Das Problem war, dass er einerseits völlig Mensch war – mit menschlichen Bedürfnissen wie dem nach Schlaf und Erholung. Andererseits aber war er so völlig Gott, dass er als Schöpfer sogar den Naturelementen befehlen konnte. Offenbar fällt es uns Menschen schwer, diese beiden Seiten zu vereinen. Man kann Jesus sehr leicht nur in die Schublade „Mensch“ stecken – was wohl am ehesten der Fehler der Jünger war. Dann erwartet man von Jesus nicht, dass er auch heute noch der Maßstab ist, an dem sich alles misst, weil er der Schöpfer des Universums und Bezwinger aller bedrohenden Kräfte und Mächte dieser Welt ist.

Fehler 2: Jesus auf die göttliche Seite reduzieren

Man kann allerdings auch den anderen Fehler machen: Man kann ausschließlich die göttliche Seite betonen und sein wahres Menschsein vergessen. In diesem Fall wundert man sich vielleicht über den Unglauben der Jünger, vergisst aber ebenso, wie normal und menschlich Jesus häufig agierte und wirkte. Denn Jesus hat nicht nur Gottes Wesen offenbart, sondern auch gezeigt, wie man als Mensch in dieser Welt lebt. Wenn man diese Seite Jesu vergisst, kann man auch heute noch damit hadern, dass Jesus trotz seiner Macht auch heute meist viel alltäglicher und unscheinbarer handelt, als wir es uns oft wünschen würden. Damals wie heute sind übernatürliche Momente wie bei der Sturmstillung die Ausnahme. Viel häufiger leben die Nachfolger Jesu heute noch ihr Leben mit allen Schwierigkeiten und Widernissen, ohne dass Jesus dabei immer direkt und übernatürlich eingreift. So wie die meiste Zeit der Überfahrt über den See, in der Jesus einfach schlief – und dabei dennoch alles unter seiner Kontrolle hatte!

Die Schablonen ablegen und neu Maß nehmen

Gegenüber diesen beiden Fehlern – Jesus auf seine menschliche oder auf seine göttliche Seite zu reduzieren – zeigt die Geschichte der Sturmstillung, wie beides notwendig zusammengehört und wo der eigentliche Fehler liegt: Er liegt nicht bei Jesus. Er liegt darin, dass man eine falsche Schablone an Jesus legt und sich dann wundert, dass sie nicht passt. Immer, wenn das geschieht, hilft nur eines: die eigenen Maßstäbe zu hinterfragen und sich neu auf den zu besinnen, der allein der Maßstab ist. Denn genau darauf weist die Geschichte von der Sturmstillung hin, die in allen drei Evangelien bewusst mit einer Frage endet: „Wer ist denn dieser?“ (Mt 8,27; Mk 4,41; Lk 8,25). Sie führt dazu, dass wir uns wieder neu auf den besinnen, der unsere vorgefertigten Kategorien sprengt und uns immer wieder zu ehrfürchtigem Staunen bringt.

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