Was gilt für mich? Grundzüge einer differenzierenden Hermeneutik

Müssen Christen den Sabbat halten? Gilt ihnen die Landverheißung Israels? Sollten sie sich beschneiden lassen?

Gilt alles für mich?

Wer die Bibel liest, stellt ziemlich schnell fest, dass man die Verheißungen und Anweisungen der Bibel nicht alle eins zu eins auf sich übertragen und anwenden kann, sondern immer berücksichtigen muss, für wen ein Text gilt und in welchem Kontext er steht. Viele alttestamentliche Texte sind speziell für die Israeliten in einer ganz bestimmten Zeit und in bestimmten Umständen geschrieben worden. So ist das Sabbatgebot das symbolische Zeichen für den Bund, den Gott mit seinem Volk Israel am Sinai schließt (2Mo 31,16-17). Auch das alttestamentliche Gesetz und viele konkrete Verheißungen (z. B. die vielen Verheißungen in 5Mo 28,1-14) stehen im Kontext des Sinaibundes.

Darf man alle an Israel gerichteten Texte ignorieren?

Vor diesem Hintergrund könnte man denken: Also gut, dann wende ich also nur Bibeltexte auf mich an, die nicht speziell für Israeliten oder Juden geschrieben wurden. Allerdings führt das ebenfalls zu Problemen: Zum einen sind auch viele neutestamentliche Bücher speziell für Juden geschrieben worden (z. B. der Hebräerbrief, der Jakobusbrief, der Judasbrief, die beiden Petrusbriefe und vermutlich auch das Johannes- und Matthäusevangelium). Es bleibt also nicht mehr viel von der Bibel übrig, wenn man alles direkt an Israeliten bzw. Juden Adressierte ignorieren wollte. Zum anderen würden so auch weite Teile des Alten Testaments bedeutungslos werden. Aber sagt nicht Paulus, dass die ganze Schrift (womit er natürlich vor allem an das Alte Testament denkt) für Juden und Heidenchristen in Ephesus nützlich ist „zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung und zur Unterweisung in der Gerechtigkeit“ (2Tim 3,16)?

Und doch hat genau diese Logik in der Brüderbewegung tatsächlich dazu geführt, dass man neben dem Alten Testament auch weite Teile des Neuen Testaments als nicht direkt für die Gemeinde relevant ansah, weil sie ja für Juden geschrieben worden seien. In besonders merkwürdigen Auswüchsen waren so weite Teile der Reden des Matthäusevangeliums, der Apostelgeschichte und natürlich auch der speziell an Juden gerichteten Briefe höchstens von theoretischem Interesse, aber kaum relevant für die Praxis, weil man sich selbst darin nicht angesprochen fühlte. Doch kann das der richtige Weg sein?

Was bleibt dann noch übrig?

Man kann noch einen Schritt weitergehen: Nicht einmal in den speziell an neutestamentliche Gemeinden gerichteten Briefen ist nach diesem Prinzip alles für heute relevant, denn Anweisungen wie „Den Mantel, den ich in Troas bei Karpus zurückließ und die Bücher, besonders die Pergamente, bringe mit, wenn du kommst“ (2Tim 4,13) sind natürlich nicht an heutige Christen gerichtet. Nach diesem Prinzip müsste man auch alle anderen Anweisungen, die speziell für einen bestimmten Kontext geschrieben wurden (z. B. die Anweisungen für das Götzenopferfleisch in 1Kor 8–10, die Maßregelung des chaotischen Gottesdienstes in Korinth in 1Kor 11–14, die Anweisungen für Starke und Schwache in Rom in Röm 14–15 etc.), heute für nicht mehr relevant halten. Am Schluss bleibt bis auf wenige allgemeine Texte nicht mehr viel übrig von der Bibel.

Eine differenzierende Hermeneutik

Die Lösung muss also woanders liegen, und zwar in einer differenzierenden Hermeneutik. Diese muss das ernst nehmen, was Paulus in 2. Timotheus 3,16 schreibt, und tatsächlich alle Teile der Schrift als nützlich für die Lehre, Überführung, Zurechtweisung und Unterweisung heutiger Christen ansehen. Die Frage muss also nicht lauten: Gilt der Text mir oder nicht? Sondern vielmehr: In welcher Hinsicht gilt der Text mir? Denn die wenigsten Texte der Bibel sind direkt an Nachfolger Jesu im 21. Jahrhundert gerichtet, aber dennoch sind alle Texte der Bibel für heutige Christen relevant und nützlich (vgl. auch 1Kor 10,11). Es ist also weniger relevant, ob ein bestimmter Text an mich geschrieben ist, sondern in welchen Aspekten dieser Text nützlich für mich ist. Denn tatsächlich enthält jeder Bibeltext mindestens einen der folgenden Aspekte aus 2. Timotheus 3,16, die für mich heute relevant und für mein geistliches Leben nützlich sind:

  • Lehre: Wahrheiten über Gottes Wesen oder sein Handeln, Wahrheiten über die Welt, den Menschen oder die Sünde, geistliche Gesetze etc.
  • Überführung: Bloßstellung meines sündigen Wesens, Verurteilung von sündigen Haltungen, Gedanken oder Taten etc.
  • Zurechtweisung: Leitplanken für mein Leben, Korrektur typisch menschlicher (und sündiger) Vorstellungen, Haltungen, Gedanken oder Taten etc.
  • Unterweisung in der Gerechtigkeit: Grundprinzipien des Willens Gottes für jeden Menschen, Weisheit im Umgang mit ähnlichen heutigen Situationen wie den im Bibeltext angesprochenen, Verdeutlichung von Gottes grundsätzlichen oder situationsbezogenen moralischen und ethischen Maßstäben für den Menschen etc.

Eine differenzierende Hermeneutik nimmt also ernst, dass jeder Bibeltext in einem speziellen heilsgeschichtlichen, historischen und kulturellen Kontext steht. Doch sie bleibt nicht bei den dabei zu Tage tretenden Unterschieden zu mir und meiner heutigen Situation stehen, sondern fragt gleichzeitig nach den Übereinstimmungen und Parallelen zu meiner heutigen Situation. Wo zeigt sich bei mir dieselbe Habgier wie bei Achan (Jos 7)? Wo murre ich über Gottes Handeln wie Israel in der Wüste (2Mo 16)? Wie kann ich die Antwort von Paulus an die Korinther zum Umgang mit Götzenopferfleisch (1Kor 8–10) auf ähnlich brisante Fragen in meinem Leben und meiner Gemeinde anwenden?

Ein differenziertes Vorgehen benötigt zwar gelegentlich mehr als eine oberflächliche Beschäftigung mit dem Bibeltext, bringt aber auch reiche Früchte hervor. Denn gerade weil die Bibel zu so unterschiedlichen Menschen in ihren verschiedenen Situationen spricht, ist sie für alle denkbaren heutigen Fragen und Lebenssituationen höchst aktuell.

Die Frage muss also nicht lauten: Gilt der Text mir oder nicht?
Sondern vielmehr: In welcher Hinsicht gilt der Text mir?
(Benjamin Lange)

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