Traumgemeinde gesucht. Meine Gemeinde gefunden.

Ich hatte ja keine Ahnung gehabt! Nun saß ich da mit meiner neuen VR-Brille auf dem in die Jahre gekommenen Sofa und erkundete die neue Welt, die sich mir auftat. Dass VR für „Virtual Reality“ stand, hatte ich gewusst, aber dass es sich virtuell derart real anfühlen konnte, faszinierte mich. Ich kam mir vor wie damals Adam, der mit jedem Schritt im Garten Eden Neues entdeckte, Gerüche wahrnahm, Tierlaute hörte. So musste es sich angefühlt haben. Jeder Button in dieser VR-Welt war für mich eine Tür zu einem neuen, unbekannten Dschungel voller Abenteuer, die sich mit einem einfachen Fingertippen öffnen ließ.

Und dann sprang mir dieser Button ins Auge: „Traumgemeinde“ stand in moderner Schrift darauf. Mit einem Fingertippen öffnete ich die App und stand nun in einem leeren Raum. Ein hübscher Avatar namens Nancy kam auf mich zu und erklärte mir freundlich, dass ich nun meine eigene Traum-Kirche würde zusammenstellen können. Sie würde mir einige einfache Fragen stellen, und so könnte ich eine Gemeinde aufbauen, die perfekt zu mir passen würde. „Erschaffe dir eine Kirche, wo du dich wohlfühlst und du Gottes Gegenwart spüren kannst wie nie zuvor“, säuselte ihre nur ganz leicht künstlich klingende Stimme in meine Kopfhörer.

Mit jeder Frage, die ich nun beantwortete, füllte sich der leere Raum. Style der Möbel und Stühle? Ich wusste nicht genau, was „Loft“ bedeutete, aber das hörte sich gut an. Wie wollte ich die Kanzel haben? Minimalistischer Stehtisch mit Pad-Halterung. Bühne? Ja. Beleuchtung? Dezent. Musikstil, Bibel-Übersetzung, Gottesdienst-Ablauf – ich spürte, wie ich immer begeisterter wurde.

Kleidung der Predigenden? Ich stutzte. Dann wählte ich aber einfach blind irgend einen der angebotenen Punkte. Ich konnte es nicht erwarten, auf den „Start“-Knopf zu drücken, mit dem ich würde eintauchen können in einen Gottesdienst, der genau so sein würde, wie ich es mir immer erträumt hatte. In einer Gemeinde, wo ich mich wirklich wohlfühlen würde. So richtig zu Hause. Endlich angekommen.

An meinem inneren Auge zogen Szenen meines realen Gemeinde-Lebens vorbei. Wie Schwester Gerlinde mir immer wieder unangenehme Fragen stellte und wie ich jedes Mal darauf achtete, von Bruder Heinrich und seinem Mundgeruch möglichst weit weg zu sitzen. Wie langatmig die Textlesung und die Ausführungen mancher Prediger oft waren, sodass mir ein Telefonbuch-Eintrag dagegen spannend vorkam.

Ich musste schon auf Start gedrückt haben. Mein virtueller Gottesdienst-Raum füllte sich mit Menschen. Neben mir nahm ein Mann Platz, der sich mit „John Doe“ vorstellte und mich freundlich begrüßte. „Woher kommst du?“, wollte ich wissen, während die Band leise anfing zu spielen.

„Direkt hier aus Korinth“, sagte er mit einem sympathischen Lächeln. „Meine Loft-Wohnung ist unten am Hafen.“ Korinth? Mir wurde schwindlig. Warum Korinth? Wo war ich hingeraten?

Währenddessen trat ein Mann in Jeans hinter das minimalistische Pult. Sein Name sei Paulus, erklärte er. Meine virtuelle Welt verschwamm plötzlich mit meinen Vorstellungen der biblischen Berichte und den Erinnerungen an die Realität in meiner Gemeinde. Das war zu viel für mich. Ich riss mir die VR-Brille vom Kopf und bemerkte, wie ich am ganzen Körper schwitzte.

Aus dem Kopfhörer neben dem Kissen tönte die Stimme von „Paulus“, der seine Predigt mit 1. Korinther 2,1 begann:

„So bin auch ich, meine Brüder, als ich zu euch kam, nicht gekommen, um euch in hervorragender Rede oder Weisheit das Zeugnis Gottes zu verkündigen. Denn ich hatte mir vorgenommen, unter euch nichts anderes zu wissen als nur Jesus Christus, und zwar als Gekreuzigten. Und ich war in Schwachheit und mit viel Furcht und Zittern bei euch …“

Schwachheit. Wie aus der Ferne traf mich dieses Wort und hallte in mir nach. Ich hatte meine virtuelle Kirche so ausgestattet, dass Schwachheit keinen Platz hatte. Herausragende Rede? Das hatte ich mir gewünscht. Appetitlich angerichtete Theologie-Häppchen, garniert mit Motivations-Slogans – so hatte ich mir das vorgestellt.

Ich nahm die Bibel zur Hand, die auf meinem Wohnzimmertisch lag, und schlug den 1. Korintherbrief auf. Ich begann beim ersten Kapitel. Es schien mir, als würde Paulus tatsächlich direkt zu mir zu sprechen. Zu mir, zu John Doe und Nancy und all den anderen Ego-Christen da draußen, die sich so gerne ihre eigene Wohlfühl-Gemeinde zusammenklicken wollten.

Wie oft hatte ich mich danach gesehnt, dass es in unserer Gemeinde auch so „cool“ zugeht wie in vielen dieser YouTube-Gemeinden? Dass die Predigt endlich auch so brillant sein würde, dass man aus jeder Minute einen TikTok-Schnipsel würde produzieren können? Dass man von inspirierenden Persönlichkeiten umgeben ist, von denen man gecoacht wird und mit deren Hilfe man ein Instagram-taugliches Christen-Profil aufbauen kann, dem täglich mehr Fans folgen?

Und nun las ich davon, dass das „Wort vom Kreuz“ eine Torheit ist. Dass Gott sein Evangelium mit voller Absicht so gestaltet hat, dass die Welt es für dummes Zeug hält. Und dass Paulus die Korinther dafür tadelt, dass sie Gemeinde so leben, als würde sich alles nur um sie drehen.

Dass sie gottgegebene Gaben missbrauchen, um selbst gut dazustehen, anstatt anderen zu dienen. Dass ihr eigener Profit im Vordergrund steht anstatt die Frage: Wie kann ich dazu beitragen, dass es der Gemeinde gut geht?

Ich hatte die Metapher von der Gemeinde als Körper Jesu schon oft gehört, aber zum ersten Mal fiel mir auf, dass mir Missstände in der Gemeinde noch nie wehgetan hatten – so wie es eigentlich sein müsste, wenn wir tatsächlich ein Leib wären; wenn ich tatsächlich ein mit dem Haupt verbundenes Körperteil wäre. Und dass ich mich schon tausend Mal darüber beschwert hatte, was alles „schiefläuft bei uns“, aber kaum einen Gedanken daran verschwendet hatte, dass Gott mich vielleicht genau mit den Gaben und Ressourcen ausgestattet hatte, die meine Gemeinde brauchte, um diese Mängel zu beseitigen.

Ich hatte tatsächlich keine Ahnung gehabt. Nicht nur von der bunten, neuen VR-Welt. Sondern vor allem davon, wie genial Gottes Plan mit einer unperfekten, schwachen und oft allzu menschlichen Gemeinde ist. Dass Gott gerade die Unzulänglichkeiten seiner geliebten Kinder dazu gebraucht, um deutlich zu machen, wie groß, barmherzig und zulänglich ER ist.

Als ich am folgenden Sonntag mit meiner Bibel unter dem Arm auf das Gebäude zulief, in dem unser Gottesdienst stattfand, musste ich lächeln. Meine Gemeinde war keine Traumgemeinde. Ganz und gar nicht. Nach wie vor wünschte ich mir vieles anders. Aber zum ersten Mal war ich froh, dass sie nicht meinen Wünschen entsprach. Dass sie unzulänglich war. So wie ich. Und dass ich genau deswegen dort zu Hause sein durfte – auch wenn es sich nicht in jedem Moment so anfühlte.

Ja, ich wollte Teil einer Gemeinde sein, die nicht ich nach meinen Wünschen erschaffen hatte, um mich wohlzufühlen. Sondern die Gott in seiner Weisheit so geschaffen hatte, dass ER geehrt wird. Eine Gemeinde, in der Gottes Gegenwart sichtbar und spürbar wird, weil Menschen sich in einer unmenschlichen, weil göttlichen Liebe begegnen. Miteinander lachen und weinen. Sich gegenseitig motivieren, ertragen und schleifen. Und an deren Liebe untereinander sichtbar wird, dass sie nicht von dieser Welt ist.

Ich betrat den Gottesdienst-Raum. Der Platz neben Bruder Heinrich war noch frei. Ich setzte mich neben ihn und reichte ihm meinen letzten Pfefferminz-Kaugummi.

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