Spaltungen überwinden

Wie man durch Versöhnung wieder zusammenfindet

In manchen Gemeinden geschieht Versöhnung selten – so selten wie Schneeflocken in der Sahara und Kakteen am Nordpol. Meine Erfahrung ist, dass in vielen Gemeinden Versöhnung zwar gepredigt, aber nicht gelebt wird. (…)

Die allermeisten wollen Versöhnung. Nur wenigen jedoch gelingt es, sich zu verständigen und dann auch für die Zukunft ein gutes Miteinander zu stabilisieren. Könnte es bei den misslungenen Versuchen daran liegen, dass wir Versöhnung nur nach unseren Vorstellungen und zu unseren Bedingungen wollen? Sind wir nur noch Sender von Botschaften, aber kaum noch empfänglich dafür, dem anderen Gehör zu schenken und uns die Mühe zu machen, mal in seinen Schuhen zu laufen? Wollen wir nur noch unsere Sichtweise darlegen und den anderen mit seinem Anliegen übergehen, seine Worte nicht mehr verstehen? Wir machen uns kaum noch Mühe, die Botschaft des anderen zu entschlüsseln. Könnte man darauf die gescheiterten Versöhnungsversuche zurückführen?

Ich erlebe viel Versöhnungsbereitschaft. Man ist gern zur Versöhnung bereit. Es fehlt nicht an Schlichtungsversuchen. Trotzdem gelingt die Versöhnung nicht. Manche versuchen dann, die Schwierigkeiten im Detail zu benennen, aber die Verwirrung wird dadurch nur noch größer. Auch die Frage nach dem Schuldigen, der für die Schwierigkeiten im Miteinander verantwortlich ist, ist nur in den seltensten Fällen mit Erfolg gekrönt. Das sollten wir eigentlich schon aus der Kindererziehung wissen, denn die Frage: „Wer hat angefangen zu streiten?“ führt meist nur zur weiteren Eskalation zwischen den Parteien mit immer schwereren Vorwürfen über die Verfehlungen des jeweils anderen. Dann wird nicht selten die ganze Klamottenkiste der vergangenen Jahre ausgepackt und dem anderen vorgehalten.

Gerade in der Gemeinde Jesu hat es durch die Kirchengeschichte hindurch immer wieder Parteiungen mit anschließenden Spaltungen gegeben. Paulus schreibt dazu im ersten Brief an die Korinther: „Denn es müssen auch Parteiungen unter euch sein, damit die Bewährten unter euch offenbar werden.“ (1Kor 11,19) Schon seit Beginn der Gemeinde Jesu haben sich Parteien gebildet, die zu Spaltungen geführt haben. Die Gemeinde in Korinth hat viele Nachahmer gefunden. Auch in den galatischen Gemeinden, die Paulus auf seiner ersten Missionsreise gründete, war nach kurzer Zeit manche Rivalität untereinander entstanden: „Wenn ihr aber einander beißt und fresst, so seht zu, dass ihr nicht voneinander verzehrt werdet!“ (Gal 5,15)

Die persönlichen Prägungen und Sichtweisen sind oft zu entgegengesetzt und zu verschieden darüber, wie das Miteinander gestaltet und die Zielsetzungen verwirklicht werden sollen. Die Impulse aus dem Unterbewussten sind oft sehr stark und meistens undurchschaubar. Die Prägungen aus unserer Kindheit sind stärker in uns verankert, als uns bewusst ist. Eigene unbefriedigte Emotionen und unerfüllte Bedürfnisse projizieren wir auf andere. Dann sind Ehepartner, Schwiegereltern, Nachbarn, Arbeitskollegen, die Gemeinde und der Staat für mein Elend und Unglück verantwortlich. Sehr schnell entsteht ein kaum noch zu durchschauender Emotionsbrei. Dieser wirkt sich wie Sand im Getriebe jeglicher Lebens- und Arbeitsgemeinschaft aus. Unsere Konflikte werfen lange Schatten auf unsere Umgebung und führen zu einem negativen Erscheinungsbild. Unsere Defizite führen ins Zwielicht der Eifersüchteleien. Wenn der Heilige Geist als der Geist der Wahrheit uns nicht in die Wahrheit über uns selbst führen kann, bleiben wir Sklaven unserer Emotionen. So sind wir immer für einen Streit zu haben, der Verwirrung und Angst stiftet. Die Gegenreaktion auf unsere „Kriegserklärung“ führt dann das Desaster herbei, das wir nie wollten.

Aber der Weg zum Kreuz, zur ersehnten Vergebung der eigenen Sünde, macht uns nicht zu hilflos Getriebenen und Gebundenen. Wir können etwas tun. Wir sind bei Jesus herzlich willkommen im Licht, und damit verliert die Dunkelheit ihre Macht. Jesus sagt: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen“ (Joh 6,37). Bei ihm bekommen wir Hilfen zur Überwindung des Streites. Das Lernen von ihm, unserem Vorbild (Mt 11,28-29), ist in einer streitsüchtigen Welt ohne Alternative. Er ist das tragfähige Fundament für ein gelingendes und gesegnetes Miteinander.

Wir stehen in der Gefahr einer harten Rechtgläubigkeit, die sich formal korrekt ausdrückt, und drohen, damit zu scheitern. Darum brauchen wir eine ständige Reinigung unserer Beziehung zu Jesus.

Ansonsten lähmt uns diese harte Gesinnung immer mehr. Am Ende folgt man nur noch der Tradition eines christlichen Regelwerks. Praktizierte Versöhnung jedoch rüttelt uns auf. Hier geht es ans Eingemachte und nicht mehr nur um einen äußeren Verhaltenskodex, der uns mit der Zeit in eine gefährliche Selbstsicherheit manövriert. (…)

Eine versöhnliche Haltung zieht ihre Kraft und ihre Dynamik aus Gottes großer Versöhnungstat. (…) Denn je mehr wir Gottes Handeln in Christus verstehen, desto mehr werden wir ihn lieben und ihn nicht mehr betrüben wollen. Praktizierte, gelebte Versöhnung wird zu einem bleibenden Bedürfnis, weil die Liebe zu Gott und zu Menschen dadurch wächst. Gottes Versöhnung mit uns stellt unser Leben auf den Kopf oder besser gesagt auf die Beine, damit wir Schritte tun können hin zur Versöhnung mit den Menschen.

Wir machen aber auch die Erfahrung, dass nicht jeder Versöhnungsversuch das gewünschte Ergebnis hat. Das wird schon an Gottes Versöhnungsaktion in Christus deutlich. Wenn er die Welt mit sich selbst versöhnte, dann heißt das nicht, dass alle dieser Versöhnung in Christus zustimmen und sich mit Gott versöhnen lassen (2Kor 5,20). Das muss für Gottes großzügiges, liebendes Herz ziemlich bitter sein, der uns nichts unnötig nachträgt und keine Vorhaltungen macht (Jak 1,5). Aber es wird auch einmal bitter für diejenigen sein, die diese Versöhnung mit Gott ausgeschlagen oder gar nicht gesucht haben. Denn Gott sagt ja unmissverständlich: „Und sucht ihr mich, so werdet ihr mich finden, ja, fragt ihr mit eurem ganzen Herzen nach mir, so werde ich mich von euch finden lassen“ (Jer 29,13- 14). Das, was Gott täglich tausendfach widerfährt, das widerfährt uns auch im menschlichen Miteinander: Die ausgestreckte Hand wird hartherzig zur Seite geschoben. Das versöhnliche Angebot wird ausgeschlagen. Der Status Quo wird zementiert.

Gott möchte unsere Schubläden sprengen, in die wir ihn und den Mitmenschen einsortiert haben. Er selbst will die Mitte unseres Lebens sein. Wo Gott in der Mitte ist, teilt er sich mit, wie es seinem Wesen entspricht: souverän, liebend und versöhnend. Damit wir wieder seine Herrlichkeit sehen, wie die Jünger damals: „Und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns, und wir haben seine Herrlichkeit angeschaut, eine Herrlichkeit als eines Eingeborenen vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“ (Joh 1,14).

Gott will keine fromme Verzierung unseres Lebens sein, er will nicht zur Randfigur abgewertet werden. Er selbst will für alle, aber auch wirklich alle Lebensbereiche zuständig sein, sie durchdringen und mit seinem Geist beleben.

Geben wir uns nicht mit einer Zweit- oder Drittklassigkeit zufrieden! Gott lädt uns ein, mit ihm und für ihn first class unterwegs zu sein.

 

(entnommen aus: Helmut Blatt, Wie wir versöhnt leben können, CV, Dillenburg, 2020)

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