„Siehe da, meine Mutter und meine Brüder!“ – die neue Familie

Wir waren gerade erst wieder nach Deutschland gekommen. Nach zehn Jahren in Afrika versuchten wir, mit unseren vier Kindern im nächsten Kulturkreis – bei den Unterfranken – heimisch zu werden. Da kam die Diagnose: Krebs. Meine Frau durchlief zwei Op’s, Chemo, Bestrahlungen … das ganze Programm. Unsere Familien lebten weit entfernt. Alte Freunde gab es keine in der Gegend.

„Das war ja furchtbar! Wie einsam müsst ihr gewesen sein! Niemand, der mal mit den Kindern hilft. Und das, nachdem ihr euch für Gott in Afrika aufgeopfert habt …“ – Die wohlgemeinten Befürchtungen waren grundlos. Der Gott, mit dem wir in Afrika unterwegs gewesen waren, war auch am neuen Einsatzort dabei. Er hatte da etwa 30 Jahre vorher einen neuen Zweig seiner Familie gegründet. Und obwohl wir uns erst sechs Monate lang kannten, bekamen wir an den schwierigen Chemo-Tagen immer wieder Essen geliefert, waren unsere Kinder in Jungschar- und Jugendgruppen integriert, hatten wir ständig Leute, die für uns gebetet und uns vielfältig ermutigt haben. Ja, dieses Jahr war schwierig – aber die Gemeindefamilie in Aktion zu erleben, hat unglaublich gutgetan!

Die Gemeindefamilie in Gottes Wort

Gemeinde ist ein so wertvolles, tiefsinniges und hilfreiches Gebilde, dass ihr Schöpfer eine ganze Reihe von Bildern verwenden muss, um uns seine Gedanken damit einigermaßen nachvollziehbar werden zu lassen (Haus, Herde, Braut, Leib, Ackerfeld …). Dass er sie sich als seine FAMILIE gedacht und gestaltet hat, scheint ihm dabei ein sehr zentraler Gedanke zu sein – so häufig, wie er von uns als „Kindern Gottes“ und von sich als „Vater“ spricht!

Kinder

„So viele ihn (Jesus) aber aufnahmen, denen gab er das Recht, Kinder Gottes zu werden.“ (Joh 1,12; 2Kor 6,17f) „Der Geist selbst bezeugt mit unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.“ (Röm 8,16) „(Gott hat) uns vorherbestimmt zur Sohnschaft durch Jesus Christus … und in ihm haben wir auch ein Erbteil erlangt … in ihm seid auch ihr … versiegelt worden mit dem Heiligen Geist der Verheißung. Der ist die Anzahlung auf unser Erbe …“ (Eph 1,5.11.13f) Recht – Zeugnis – Erbteil – Versiegelung – Anzahlung: lauter Rechtsbegriffe. So, wie in unseren irdischen Familien die Beziehungen normalerweise auf rechtlichen Partner-, Eltern- und Kindschaftsverhältnissen fußen, ist auch das Original kein loser Haufen von lediglich sentimental miteinander verbundenen Personen. Auch in Gottes Familie ist klar (zumindest bei ihm), wer dazu gehört und wer nicht, und auf welcher Grundlage jemand dazugekommen ist. Dem weiter nachzugehen, wäre ein erster Vorschlag für eine faszinierende Bibelarbeit …

„Vater!“

– wie an hunderten anderen Stellen allein im Neuen Testament verwendet Jesus Christus diese schlichte, persönliche und doch so gewaltige Anrede, als er seinen Jüngern das Beten beibringen will (Luk 11,2) – genauso, wie er selbst ständig im Gespräch mit diesem seinem Vater ist (z.B. Luk 10,21; 22,42; 23,34.46). Spätestens hier dämmert uns, dass Kind Gottes zu sein uns gleichzeitig zu Geschwistern des Herrn Jesus macht! Dieser verwegene Gedanke wird mehrfach ausdrücklich bestätigt, z.B. in Hebr 2,11: „Er schämt sich nicht, sie (die geheiligt werden) Brüder zu nennen.“ Seine Beziehung zum himmlischen Vater wird natürlich immer besonders bleiben. Er differenziert nach der Auferstehung zwischen „meinem Vater und eurem Vater“ (Joh 20,17) und er wird immer „der Erstgeborene unter vielen Brüdern“ (Röm 8,29) sein. Was aber eine solche Nähe zwischen sündigen Menschen und Gott dennoch konkret bedeutet für unser Selbstverständnis, unser Vertrauen, unsere Entschlüsse und Gefühle, könnte Stoff für die nächste Bibelarbeit sein …

Geschwister

„Brüder“ kommen in der Ein- und Mehrzahl rund 350 Mal im Neuen Testament vor, „Schwestern“ etwa 25 Mal, der Ausdruck „Geschwister“ gar nicht. Wie kommt es zu dieser Unausgewogenheit, wo doch aus den Berichten klar die nicht unerhebliche Präsenz von Frauen in der Missions- und Gemeindearbeit zu entnehmen ist und auch ihre Themen in den Briefen vorkommen? – Relativ einfach: Die Griechen hatten kein separates Wort für „Geschwister“, sie verwendeten dafür den Plural von „Bruder“ (generisches Maskulinum). Das heißt, an all den Stellen, wo nicht ausdrücklich im Kontext zwischen Männern und Frauen unterschieden wird, sind mit „Brüder“ Menschen beiderlei Geschlechts gemeint (so übersetzt das z.B. die NeÜ auch) – und das ist sehr häufig.

Nachdem sich so die sprachliche „Unausgewogenheit“ aufgeklärt hat, können wir uns nun von der inhaltlichen Ausdrucksstärke dieser Begriffe beeindrucken lassen. Der Herr Jesus ersetzte für seine Jünger die damals üblichen Titel „Lehrer“, „Vater“ und „Meister“ durch einen einzigen: „Ihr alle aber seid Brüder (= Geschwister)“ (Mat 23,8). Diese familiäre Bezeichnung zieht sich dann auch durch alle Berichte und fast jedes neutestamentliche Buch – sie gehörten zur Familie Gottes, waren Brüder und Schwestern, sprachen so zu- und übereinander, und benahmen sich entsprechend. Wachsende Liebe untereinander (1Thes 4,9f), tatkräftige Opferbereitschaft (1Joh 3,14-18), praktischer Rechts- oder Eherat (1Kor 6+7), angemessene Umgangsweisen (1Tim 5,1f) – hunderte von Aussagen für Brüder, Schwestern oder Geschwister, genug Stoff für eine dritte Bibelarbeit … Es bedeutete Schutz, Korrektur, Unterstützung, Ermutigung, Ergänzung, Aufgabe – und es war Gnade und eine Ehre, zu dieser geistlichen Familie, der Familie Gottes zu gehören und das durch den regelmäßigen Gebrauch der Familienbezeichnung auch auszudrücken.

War die biologische Familie damit unwichtig geworden?

Keineswegs. Jesus zeigt, wie er sich das Verhältnis vorstellt. Noch am Kreuz regelt er die Versorgung seiner Mutter (Joh 19,25-27). Er wirft den Pharisäern Heuchelei vor, weil jemand nach ihren Regeln ruhigen Gewissens seine Eltern vernachlässigen dürfte, wenn er ihre Unterstützung stattdessen für den Opferdienst ausgibt. Paulus greift diese Verpflichtung sehr nachdrücklich auf, wenn er schreibt: jemand, der seine Familie nicht versorgt, „hat den Glauben verleugnet und ist schlechter als ein Ungläubiger“ (1Tim 5,8). Rücksichtnahme auf Ehepartner, Kinder, Eltern – egal ob gläubig oder nicht – finden sich immer wieder in der Bibel. Gott gibt Ehe und Familie einen hohen Wert und wir sollen entsprechend leben. Menschen sollten bessere Kinder, Ehepartner oder Eltern sein, gerade weil sie Jesus folgen.

Alles eine Frage der Prioritäten

Aber: Wir lesen in Luk 2,41ff, dass der zwölfjährige Jesus große Sorgen seiner Eltern in Kauf nahm, weil er sich gedrängt sah, im Tempel, dem Haus seines Vaters, zurückzubleiben. Am Anfang seines öffentlichen Dienstes wies er seine Mutter in ihre Schranken, weil sie seinen Dienst managen wollte (Joh 2,4). Zwischendrin stellte er öffentlich fest, dass seine Jünger um ihn herum seine eigentliche Familie seien, nicht Mutter und Brüder, die vor der Tür auf ihn warteten (Mat 12,46-50). Gegen Ende ließ er sich von der oben erwähnten Liebe zu seiner Mutter nicht davon abhalten, ans Kreuz zu gehen. Mit der Grundeinstellung „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe“ (Luk 22,42) hat er zeitlebens nicht nur seine persönlichen Gefühle und Vorlieben, sondern auch alles andere, was er hatte, dem Willen Gottes untergeordnet. Dazu gehörten auch seine irdischen Beziehungen. Die Beziehung zu Gott war ihm die wichtigste, von der her wurden alle anderen definiert und eingeordnet. Diese Einstellung erwartet er auch von uns, seinen Nachfolgern (Luk 14,26-27.33). Die Spannung zwischen diesen beiden Ebenen aufzuarbeiten, könnte Gegenstand einer vierten Bibelarbeit werden … bei der auf keinen Fall vergessen werden dürfte, welcher Segen denen winkt, die sich die Einstellung des Herrn Jesus zu eigen machen: Jesus sprach: Wahrlich, ich sage euch: Da ist niemand, der Haus oder Brüder oder Schwestern oder Mutter oder Vater oder Kinder oder Äcker verlassen hat um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der nicht hundertfach empfängt, jetzt in dieser Zeit Häuser und Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder und Äcker unter Verfolgungen – und in dem kommenden Zeitalter ewiges Leben“ (Mk 10,29ff).

Wie sieht der Segen der neuen Familie praktisch aus?

Unter der oben erwähnten Verfolgung realisieren dann selbst in der kleinsten Gemeinde die Christen, dass sie in der Familie Gottes tatsächlich „hundertfach Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder“ bekommen haben. Wenn dann die Grenzen der Denominationen verschwimmen, wir einander intensiver brauchen und es nur noch darauf ankommt, ob jemand zu Jesus gehört oder nicht, merkt man, dass es doch viel mehr von uns gibt, als wir aktuell im Blick haben, und dass wir uns selbstverständlich helfen, wenn es eng wird.

Aber selbst, wenn man mal nur über seine eigene Gemeinde nachdenkt – was bedeutet es, dass wir „Familie“ sind?

Wenn es gut geht, erleben neue Geschwister ihre neue Familie als sehr wohltuende Ergänzung zu dem, was sie bis jetzt an Familienerfahrungen gemacht haben. Manche sind zuhause die einzigen Gläubigen und erleben dort hauptsächlich Stress oder Gleichgültigkeit. Manche vermissen dort Austausch über wirklich Wichtiges. Nicht wenige kommen aus ge- oder zerstörten Beziehungen und genießen unsere wechselseitige Freundlichkeit und Anteilnahme.

Besonders Alleinstehende, egal ob jüngere Singles, geschiedene oder verwitwete Menschen, lernen ihre neue Gemeindefamilie sehr schätzen. Dass man als alleinerziehende Mutter mal vernünftig mit einem anderen Papa über Schwierigkeiten mit den Kindern reden kann. Dass man als alte Schwester einen Teenie-Bruder zum Rasenmähen findet. Dass man dort – oder auch auf größeren Veranstaltungen mehrerer Gemeindefamilien – potentielle Partner fürs Leben kennenlernen oder auch einfach entspannt vielfältige Freundschaften pflegen kann.

Die Wechselwirkungen von christlichen Familien und ihrer Gemeindefamilie sind vielfältig. Mit meist überdurchschnittlich Platz im Haus sind sie oft ein Treffpunkt im Gemeindeleben. Viele Mamas und Papas werden im Lauf der Jahre auch Mütter und Väter im Glauben, vor oder auch eher hinter den Kulissen. Opferbereite Familien müssen immer mal wieder ihre zeitlichen Prioritäten sortieren, weil man sich im Dienst an der Gemeindefamilie auch verlieren kann – aber man profitiert auch. Wenn die Kinder im Teeniealter andere Erwachsene als Ansprechpartner brauchen, kennen sie welche. In unserer Gemeinde wussten mehrere Mitarbeiter von den Weltreiseplänen unseres Jüngsten Monate, bevor wir Eltern eingeweiht wurden …

Sehr reale Bedürfnisse treffen auf sehr reale Menschen, mit denen man gemeinsam unterwegs sein darf. Vorausgesetzt genau das geschieht: man ist gemeinsam unterwegs, hat den anderen im Blick, setzt den Willen Gottes für alle über das eigene Wohlbefinden. Das Design der Gemeinde als Familie ist fantastisch: Attraktiv und eine überzeugende Demonstration des Evangeliums für Menschen ohne Gott. Ein wohltuender Ort, wo die Herausforderungen des persönlichen Lebens im Miteinander aufgefangen werden können, für alle, die dazugehören.

So ist das gedacht.

Jetzt müssen wir es nur noch leben. So wie der geschätzt 80-Jährige in einer Lausanner Gemeinde, die ich vor 35 Jahren besuchte. Am Ende des Gottesdienstes kam noch die Ansage, dass am folgenden Sonntagnachmittag alle jungen Leute bei ihm zum Boccia-Spielen eingeladen seien. Ich weiß nichts mehr von dem Tag – außer die Erinnerung an den alten Bruder, der Gemeindefamilie praktisch lebte.

 

(Dieser Artikel wird Teil der Zeitschrift Perspektive 05-2023 zum Oberthema „Miteinander auf dem Weg“ mit einer Reihe anderer wertvoller Beiträge – mehr Infos hier.)

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