Die erste Gemeinde

Aus den Berichten der Apostelgeschichte über das Pfingstereignis wird deutlich: Die erste Gemeinde der Christen war in der Tat ein Prototyp. Das gilt mit ein paar Einschränkungen. Aber in Vielem trifft es doch ohne Zweifel zu: Die erste Gemeinde war ein Prototyp! Mit ihr begann etwas völlig Neues. Mit ihr begann etwas, das es so vorher noch nie gegeben hatte. Und es begann nicht irgendwie: Die erste Gemeinde kam nicht irgendwie zustande, sondern durch die unmittelbare und ungeschmälerte Wirkung des Heiligen Geistes: Er rief sie ins Leben. Er gab ihr die Gestalt. Er gab ihr die Form und das unverwechselbare Profil.

Und das heißt: Die erste Gemeinde trug noch in sehr starker Weise die frischen und klaren Spuren Gottes. Sie entsprach in ihrem Leben, ihrem Reden, ihrem Tun in sehr starker Weise dem Willen und dem Wesen Gottes. Nichts war eigenmächtig verändert. Nichts mühsam repariert oder geflickt! Das heißt nicht, dass sie eine fehlerlose Gemeinde war. Fehlerlosigkeit von Gemeinde gibt es erst in der Ewigkeit. Aber: Die erste Gemeinde war eine Gemeinde, die alle Kennzeichen aufwies, die eine geistlich gesunde Gemeinde nach dem Willen Gottes haben soll. Sie war Gemeinde nach dem Herzen Gottes.

Und darum ist es so wichtig und so gut, sich diese Gemeinde näher anzuschauen und sie genau kennenzulernen. Denn hier haben wir den Prototyp von Gemeinde vor Augen. Gemeinde, wie sie nach dem Willen Gottes aussehen soll. Und wenn wir uns an ihr orientieren, können wir immer nur gewinnen.

Jerusalem zur Zeit der Apostel

Jerusalem war schon damals eine Großstadt. Berechnungen haben ergeben (1) , dass rund 100.000 – 120.000 Menschen permanent in Jerusalem residierten. Zu den großen Festen allerdings, dem Laubhüttenfest, dem Wochenfest (Pfingsten) und (allen voran) dem Passafest, schwoll die Bevölkerung der Stadt auf das Zehnfache an: Dann beherbergte Jerusalem mehrere Hunderttausend Menschen und mehr. Wir werden gleich sehen, dass diese Tatsache für die erste Gemeinde nicht ohne Bedeutung war.

Die Bewohner Jerusalems verteilten sich auf eine Ober- und eine Unterstadt. Die Oberstadt war die Domäne der Reichen und Wohlhabenden, die Unterstadt das Refugium der kleinen Leute und der Armen.

Reiche gab es genug in Jerusalem: Hier mehr als irgendwo sonst im Lande. Es handelte sich meist um Großgrundbesitzer, also um Leute, die Landgüter in der Nähe der Stadt und im ganzen Land Judäa besaßen. In der Regel waren diese Güter in der Obhut von Verwaltern, die die Äcker bewirtschafteten und die Ernten einbrachten. Die Besitzer hingegen lebten die meiste Zeit des Jahres in ihren Häusern in Jerusalem und kehrten nur gelegentlich auf ihre Güter zurück. In den Gleichnissen Jesu tauchen die Großgrundbesitzer als „Hausherren, die außer Landes gehen“, immer wieder auf (Mt 21,33; Mt 25,14). …

Auch kleine Leute und Arme gab es genug in Jerusalem: Sie bewohnten vor allem die Unterstadt und arbeiteten als Kaufleute und Handwerker. Hauptarbeitgeber war der Tempel: Bäcker, Weber, Goldschmiede, Wäscher, Salbölhersteller und Geldwechsler wurden hier immer gebraucht. Solange am Tempel noch gebaut wurde, fanden auch Steinmetze und Zimmerleute Arbeit. Nach Abschluss der Bauarbeiten Anfang der sechziger Jahre des ersten Jahrhunderts wurden etwa 18.000 Arbeiter, Steinmetze und Zimmerleute entlassen.

Die bunte Mischung der Gemeinde

In der ersten Gemeinde waren nun (außer der Priesteraristokratie) so gut wie alle Bevölkerungsgruppen vertreten: Barnabas zum Beispiel (Apg 4,36-37) muss Grund und Boden in beträchtlicher Menge in Judäa (möglicherweise auch in Zypern) besessen haben. Bedeutenden Landbesitz hatten auch Ananias und Saphira (Apg 5,1). Ihr Grund und Boden wird im Neuen Testament mit einem besonderen Wort bezeichnet: Das griechische Wort heißt ktema, was ein Ausdruck für eher große Ländereien ist. Auch Levi, der Zöllner (Mk 2,13-17), ein Jünger Jesu, war wohlhabend und in der Lage, größere Festivitäten und Bankette auszurichten und zu finanzieren. Nicht zuletzt besaß Maria, die Mutter des Markus, ein so großes Haus, dass sich die erste Gemeinde darin versammeln konnte, was auf eine sehr beträchtliche Größe schließen lässt (Apg 12,12-17).

Aber auch die Unterschicht und die Gruppe der Ausgestoßenen waren in der ersten Gemeinde vertreten: Jakobus, Johannes, Petrus und Andreas waren Fischer. Sie waren eher „kleine Leute“. Jakobus, der Halbbruder Jesu, war sehr wahrscheinlich Zimmermann (Mk 6,3). Viele der ärmeren Priester in Jerusalem (Apg 6,7) schlossen sich der neuen Gemeinde an. Und natürlich stießen auch all die Kranken und Bettler, die von Jesus (Joh 5,1-14; 9,1-12) oder den Aposteln (Apg 3,1-10; 5,12-16) geheilt worden waren, zur Gemeinde dazu.

Die Apostelgeschichte (Apg 2,44-45; Apg 4,34) deutet darüber hinaus auch noch an, dass es relativ viele in der ersten Gemeinde gab, die auf Unterstützung und Fürsorge angewiesen waren. Interessant ist aber, dass die Apostelgeschichte keine detaillierten Angaben über die sozialen Abstufungen in der Gemeinde macht. Ganz offensichtlich spielten solche Abstufungen in der ersten Gemeinde keine Rolle. Das heißt: Sowohl Angehörige der Oberschicht als auch der Angehörige der Unterschicht, sowohl Reiche als auch Arme lebten in der ersten Gemeinde grundsätzlich ohne größere Probleme miteinander.

Wir halten fest: Die erste Gemeinde war ein äußerst gemischtes und sehr, sehr buntes Volk. Menschen völlig unterschiedlicher Herkunft, völlig unterschiedlichen Bildungsgrades, Einkommens und Ansehens kamen durch dieselben evangelistischen Predigten der Apostel zum Glauben an Jesus und lebten zusammen in einer Gemeinde. Ein erstaunliches Phänomen.

Mission unter schwierigen Bedingungen

Nach allem, was wir über die intensive Gemeinschaft der ersten Gemeinde erfahren, überrascht es wahrscheinlich nicht, dass sie auch von Anfang an eine missionarische Gemeinde gewesen ist. Schaut man jedoch genauer hin, ist man zutiefst erstaunt, dass die erste Gemeinde überhaupt irgendwen, irgendwie, irgendwann missioniert hat. Denn die Schwierigkeiten, die sich allen Evangelisationsaktivitäten in Jerusalem und im Land Israel entgegenstellten, waren enorm!

Der Anfang der Schwierigkeiten war der, dass die ersten christlichen Missionare rein menschlich gesehen ein Nichts waren: Eine Handvoll Männer ohne jede theologische Ausbildung. Und die versuchten nun das Volk Israel für einen gekreuzigten Zimmermann zu gewinnen. Machen wir uns klar: Die führenden Persönlichkeiten im Volk Israels waren allesamt Theologen mit hervorragender Ausbildung. Die Rabbiner waren stolz darauf, dass sie in einer gewaltigen Lehrtradition standen, die bis auf Mose zurückging. Und nun kamen diese Fischer und Zöllner daher und wollten sie belehren! Eine unverschämte Anmaßung in ihren Augen!

Und weiter: Die Hauptschwierigkeit war natürlich Jesus selbst. Es war für Juden unvorstellbar, dass ein Zimmermann, der noch jung gewesen war und gerade erst gelebt hatte, größere Weisheit haben sollte als Mose. Wie konnte ein nicht ordentlich ausgebildeter und geprüfter Rabbi, der oft mit den amtlichen Auslegern des Alten Testaments in Konflikt kam, der Lehrer Israels oder gar der Messias sein? Das alles war anstößig genug. Aber nach der Kreuzigung Jesu war es für einen Juden nicht nur anstößig, sondern geradezu widersinnig, an Jesus als den Messias zu glauben: Die Verehrung eines gekreuzigten Messias war in ihren Augen geradezu gotteslästerlich. Stand denn nicht im Alten Testament ausdrücklich: „Ein Aufgehängter ist verflucht bei Gott!“ (5Mo 21,23; vgl. Gal 3,13)?

Ein Jude des zweiten Jahrhunderts, namens Trypho, der sich intensiv mit dem Glauben der Christen auseinandergesetzt hatte, gestand seinem christlichen Gesprächstpartner Justin (gest. 165 n. Chr.): „Sei versichert, dass unser ganzes Volk auf den Christus wartet. Und wir geben zu, dass all die Schriftstellen, die du angeführt hast, sich auf ihn beziehen. Was aber den schändlichen Kreuzestod des Christus angeht, darüber besteht bei uns kein Zweifel. Denn jeder, der gekreuzigt wird, steht nach dem Gesetz unter dem Fluch, und an dieser Stelle bin ich äußerst ungläubig. Es ist ganz klar, dass die Schrift darauf hinweist, dass der Christus leiden musste; aber wir möchten erfahren, ob du es uns beweisen kannst, dass dies durch Leiden geschehen soll, das im Gesetz verflucht wird.“

Eine weitere Schwierigkeit war die Tatsache, dass das bekannteste Bekenntnis der Christen lautete: „Jesus ist Herr!“ Mit dieser Anrede wurde im Judentum ausschließlich Gott selbst angeredet (hebr. adonai). Viele Juden waren daraufhin der Meinung, die Christen beteten zwei Götter an.

Ganz besonders helle Empörung rief später die christliche Lehre von der Geburt Jesu von der Jungfrau Maria hervor. Dass Götter sich mit Menschenfrauen einließen, das kannten die Juden aus den griechischen Göttersagen. Und sie verachteten diese heidnischen Machwerke zutiefst. Nun wurde – in ihren Augen – der Gott Israels durch die christliche Lehre von der Jungfrauengeburt scheinbar auf die Ebene heidnischer Götter herabgezogen.

Und dann: Die Christen hörten sehr bald auf, die Beschneidung zu praktizieren. Sehr bald feierten sie auch den Sonntag (vgl. 1Kor 16,2) und nicht mehr den Sabbat (also den Samstag). Wenn man bedenkt, wie hoch unter den Juden die Achtung für das Gesetz des Mose war, kann man sich vorstellen, wie allergisch sie auf die neuen Sitten der Christen reagierten.

Noch einmal der Jude Trypho: „Das ist es, was uns bei euch unerklärlich erscheint: Ihr bekennt, fromme Menschen zu sein und sogar besser als die anderen. Aber in keinem Punkt trennt ihr euch von ihnen. Ihr ändert auch nicht eure Lebensweise im Verhältnis zu der anderer Völker. Ihr haltet weder Feste noch Sabbate ein und auch nicht den Ritus der Beschneidung. Dazu kommt, dass ihr, die ihr eure Hoffnung auf einen Mann setzt, der gekreuzigt wurde, dennoch Gutes von Gott empfangen wollt, obwohl ihr doch seine Gebote nicht haltet. Habt ihr nicht gelesen, dass die Seele aus seinem Volk ausgerottet werden soll, die nicht am achten Tage beschnitten wurde?“

Ich denke, es wird deutlich, wie groß die Schwierigkeiten waren, die sich allen Evangelisationsaktivitäten entgegenstellten. Und das ist wirklich ermutigend! Denn: Wenn die erste Gemeinde damals mit diesen gewaltigen Schwierigkeiten fertig wurden, dann besteht die begründete Hoffnung, dass auch wir mit den Hindernissen fertig werden, die sich heute der Evangelisation entgegenstellen.

Einwände und Antworten

Die Christen damals mussten auf die zahlreichen Einwände, die von jüdischer Seite gegen den Glauben an Jesus vorgebracht wurden, Antworten finden: glaubwürdige und stichhaltige Antworten. Und natürlich stellt sich die Frage: Wie haben die Christen der ersten Gemeinde das angepackt damals? Wie sind sie an ihre Aufgabe herangegangen? An Petrus können wir es sehen. Im Wesentlichen spielt er zwei Trümpfe aus:

  1. Die Tatsache der Auferstehung Jesu
  2. Das Alte Testament

Warum war die Tatsache der Auferstehung so wichtig für die Evangelisation? Nun, sie war darum so entscheidend, weil sie einen anderen Vorbehalt aufhob: nämlich den, dass Jesus als Gekreuzigter verflucht sei. Die Tatsache der Auferstehung Jesu bewies, dass Jesus eben nicht der von Gott Verfluchte sein konnte. Die Auferstehung war das göttliche Siegel auf sein Leben und auch das Siegel auf seinen Anspruch, der Messias zu sein. Die Auferstehung ließ den schrecklichen Tod Jesu in einem völlig neuen Licht erscheinen. Sie bewies, dass Jesus nicht der gewesen sein konnte, als den ihn die führenden Leute in Israel gern sehen wollten, nämlich als einen Gotteslästerer und falschen Messias. Die Auferstehung Jesu zwang zum ernsthaften Nachdenken über diesen Mann. Und darum taucht das Bekenntnis zur Auferweckung Jesu in jeder Evangelisationspredigt der ersten Gemeinde auf.

Und dann das andere: Zitate aus dem Alten Testament. Auch sie tauchen in jeder Evangelisationspredigt der ersten Gemeinde immer wieder auf. Nicht nur das Pfingstereignis erklärt Petrus in seiner ersten Evangeisationspredigt mit einem Zitat aus dem Propheten Joel (Joel 3,1-5; Apg 2,14-21). Auch seinen Hinweis auf die Tatsache der Auferstehung Jesu verknüpft er mit einem Zitat aus dem Alten Testament (Ps 16,8-11; Apg 2,25-28). Und in Petrus´ zweiter Evangelisationsansprache, der Tempelpredigt (Apg 3,12-26) tauchen ebenfalls Zitate aus dem Alten Testament auf. Zunächst in der Mitte seiner Predigt (Apg 3,22-23). Dort geht es um eine messianische Prophezeiung aus 5. Mose 18,15-19. Und dann noch einmal ganz am Ende der Predigt (Apg 3,25-26; 1Mo 22,18). Dort geht es um die Erwählung des Volkes Israel.

Die Apostel haben also – angeleitet durch Jesus selbst (vgl. Lk 24,27.44-48 und Apg 1,3)– intensiv am Alten Testament gearbeitet. Sie erschlossen sich Stück um Stück die Vielfalt der messianischen Prophezeiungen im Alten Testament. Sie haben ein beachtliches Stück Arbeit geleistet. Und warum haben sie das getan? Sie haben das getan, weil sie ihr Volk gewinnen wollten für Jesus. Sie haben sich nach besten Kräften auf die Leute eingestellt, die sie mit dem Evangelium erreichen wollten. Sie hatten eine Liebe für ihr Volk und ihre Leute, und darum war ihnen kein Kraftaufwand zu groß und keine Mühe zu viel. Sie haben wirklich das getan, was der Apostel Paulus für sich später als Leitsatz für die Evangelisation formuliert hat: „Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich Juden gewinne. Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich wie einer unter dem Gesetz geworden … damit ich die, die unter dem Gesetz sind, gewinne“ (1Kor 9,20).

Eines jedoch haben die Apostel nie getan: Niemals haben sie den Leuten nach dem Mund geredet. Niemals haben sie irgendwelche Abstriche an der Wahrheit Gottes gemacht. Niemals haben sie das Evangelium den Bedürfnissen ihrer Zuhörer angepasst. Sie haben den Leuten die ganze Wahrheit Gottes gesagt.

 

Fußnote:

(1)  Wolfgang Reinhardt, The Population Size of Jerusalem and the Numerical Growth of the Jerusalem Church, in: Richard Bauckham (Hrsg.), The Book of Acts in ist First Century Setting, Bd. 4, Michigan, 1995, S. 237–265.

Kommentare sind geschlossen.