Selbständig und vernetzt – warum es gut ist, als Gemeinde nicht allein zu bleiben (2)

Teil 2: Praktische Umsetzung

Heute noch genauso?

Ist es, nach all den Entwicklungen der Kirchengeschichte, mit der resultierenden Zersplitterung der Christenheit, und in der heutigen gesellschaftlichen Situation, denn heute noch möglich, so selbständig und doch vernetzt Gemeinde zu leben?

Klar! Weltweit unzählbar viele Gemeinden mit und ohne Zugehörigkeit zu irgendeiner Denomination leben selbstbestimmt, nur Gott und den eigenen Gemeindegliedern verantwortlich, aber in mehr oder weniger intensivem Kontakt zu anderen Gemeinden. Auch hier in Deutschland gibt es Hunderte von Russlanddeutschen Gemeinden, unabhängige Baptisten, evangelische Gemeinschaften, Brüdergemeinden, Missions-, KfG-, Bibel-, Hauskreis- und viele andere völlig freie oder einem Bund oder Netzwerk angeschlossene Gemeinden, die im Grunde genommen genau das leben. Wogegen sie sich strikt wehren, ist Einflussnahme von außen, Fremdbestimmung durch eine übergeordnete Autorität – manchmal im Widerspruch zu der Gruppe, der sie offiziell angehören. Daher betonen sie den Aspekt der Selbständigkeit oft sehr stark – und vergessen dabei machmal, den der Einheit ebenfalls angemessen zu gewichten. Da das so ist, wollen wir im Folgenden einer zweiten Frage nachgehen:

Warum ist Kontakt oder Vernetzung mit anderen Gemeinden wünschenswert?

Zunächst mal sagen wir in den o.g. Gemeinden oft, dass für die Lehre und Praxis bei uns das Neue Testament Richtschnur ist. Das beantwortet die Frage eigentlich schon. Das allererste, was dem Apostel Paulus einfiel auf die Frage, wie ein Leben „würdig unserer Berufung“ aussieht, war es, fleißig die Einheit zu bewahren – selbst wenn es da manches „in Liebe zu ertragen“ gilt (Eph 4,1-6).

Wer zusätzlich durchdenken möchte, was geschieht, wenn man meint, ohne die anderen im Leib Christi auskommen zu können, der findet bei Alexander Strauch eine wenig schmeichelhafte Zusammenfassung der Ergebnisse solch gemeindlicher Abschottung:

„Überzeugt unabhängige Gemeinden, die kein Interesse oder, noch schlimmer, Argwohn allem außerhalb ihrer örtlichen Gemeinschaft gegenüber haben, entwickeln alle Arten von unchristlichem Verhalten. Sie lassen oft das Gegenteil von christlicher Einheit, Einigkeit und agape Liebe erkennen. Sie geben ein armes und flaches Zeugnis der globalen Botschaft und weltweiten Familie Gottes. Dazu werden sehr unabhängige Gemeinden, wie Roy Coad beobachtet, „ein fröhliches Jagdgebiet für individualistische, tyrannische Leiter“. … Oft produzieren solche Gemeinden Christen, die in einer Wagenburg-Mentalität von „Wir sind die einzig wahren Bibeltreuen“ gefangenstecken und selbstzufrieden, allen anderen gegenüber argwöhnisch, hochmütig und engstirnig auch das ablehnen, was andere Wirksames für Gott tun – einfach, weil sie nicht tun, was andere tun. Anders zu sein ist wichtiger als die Glaubensinhalte, die sie mit anderen Christen verbinden. –

In Wirklichkeit brauchen wir alle den ganzen Leib Christi, um ausgewogen, weise und unseren eigenen Fehlern und Mängeln gegenüber aufmerksam zu sein, für die wir oft völlig blind sind.“ (S.199)

Gemeinden, die sich ihrer Führung durch den Herrn der Gemeinde und der darin anerkannten Ältesten bewusst sind und ihre Identität und Überzeugungen kennen, brauchen nicht in diese Falle von Hochmut und Abschottung zu tappen. Sie können die Reinheit ihrer Lehre und Praxis bewahren und werden dennoch an einem neutestamentlich inspirierten Miteinander von Gemeinden teilnehmen wollen.

Da fragt sich dann nur noch:

Wie kann das konkret aussehen?

LOKAL: Ob gemeinsames Gebet, Evangelisieren, Eintreten für ethische Werte oder Stadtfest-Gottesdienste möglich sind, hängt nicht nur von uns, sondern auch von den Gegebenheiten in den anderen Gemeinden ab. Wo es guten Gewissens geht, erleben Menschen drumherum auch dadurch etwas von der Schönheit und Anziehungskraft des Evangeliums. Die eigenen Leute werden ermutigt durch Verstärkung durch Geschwister, die sie sonst gar nicht kennen würden. „Der Elternbeiratsvorsitzende ist zwar aus der Nachbargemeinde, aber trotzdem ‚einer von uns‘.“ Immer wenn die Umstände rauer werden, verschwimmen die Grenzen zwischen  Nachfolgern Jesu sowieso. Solange es keine Kompromisse in zentralen Fragen braucht – warum auf raue Zeiten warten?

REGIONAL: In ungezählten Gebieten haben sich nahe beieinanderliegende Gemeinden mit ihren Zielgruppenangeboten geholfen. Die eine hat gerade kaum Grundschulkinder, die andere nur wenige Jugendliche – dann legt man die entsprechenden Treffen eben für drei Jahre zusammen. Die einen haben Täuflinge, die anderen ein Becken – da ist schnell klar, wo die fröhliche Feier steigen wird. Gemeinsame Sommerlager, die eine Gemeinde alleine überhaupt nicht gestemmt bekäme, dabei kostenloses Training für alle Nachwuchsmitarbeiter – und fünf Jahre später ein paar Hochzeiten – in manchen Regionen gehört sowas selbstverständlich zum Jahresprogramm. Regionale Projektchöre, Unterstützung oder Absprachen bei Evangelisationen, Seelsorge in Situationen, wo man mal jemanden außerhalb der eigenen Gemeinde braucht, Förderung kleinerer Gemeinden mit Predigten, die gemeinsame Entwicklung begabter Mitarbeiter … die Möglichkeiten, die Einheit der Gemeinde Jesu auf regionaler Ebene zu nutzen und auszugestalten, sind vielfältig.

Eine Aktivität kann dieses Privileg, einander zu haben, vielleicht am folgenreichsten nutzen: Austausch zwischen Leitern. Wenn die sich verstehen, können aufkommende Möglichkeiten erkannt und umgesetzt oder auch Missstimmungen geräuscharm beendet werden. In der Planung gemeinsamer Schulungen oder „Gemeindetage“ werden örtliche blinde Flecken wechselseitig erhellt. In solchem Austausch finden Älteste die gegenseitige Korrektur und Ermutigung, die ihnen manchmal in ihrer eigenen Gemeinde fehlen. Auf dieser Ebene kann so auch Vertrauen wachsen, das dann dringend gebraucht wird, wenn eine Gemeinde sich in einer schwierigen Konfliktsituation wiederfindet. Wer, wenn nicht die Brüder (manchmal mit ihren Schwestern) von nebenan, hätte besseren Durchblick und offenere Kommunikationskanäle, um zu den betroffenen Parteien durchzudringen. Wir haben keine Apostel mehr, die autoritativ von außen in eine Gemeindesituation hineinsprechen dürften, und meist sind wir auch nicht die Gründer einer aktuell trudelnden Gemeinde – aber Apostelschüler, die wie Timotheus und Titus Apostellehre an die Hand bekommen haben für ihre schwierigen Gemeindeeinsätze, das sind wir auch. Warum sollten wir das nicht nutzen, besonders bei denen, die uns so nahestehen?

NATIONAL: Der Segen, einem nationalweit agierenden Netzwerk anzugehören, erschließt sich für viele nicht. In der Region gibt es vielleicht genug Kontakte, für Freizeiten schickt man den Nachwuchs zu WDL, Redner findet man an den Bibelschulen, Schulungen bei verschiedenen freien Werken, und Bücher bestellt man „bei Wolfgang oder in Dillenburg“. Da die institutionelle Bindung der jüngeren Generationen sowieso schwindet, vermisst so bald auch niemand etwas – außerdem muss man sich nicht mit dem Balast einer bestehenden Gruppierung herumschlagen. Das ist ein Modell, und es mag für manche Gemeinden in ihrer Situation genau das richtige sein.

Ein anderes wäre das folgende: man stelle sich etwa 200 kleine bis mittelgroße Gemeinden vor, die seit 75 Jahren mit einem relativ stabilen Kern ein Netzwerk bilden, zu dem einfach gehört, wer die Grundüberzeugungen teilt und mitmacht. Ohne Mitgliedschaft, ohne feste Beiträge, ohne Kontrollen oder übergeordnete Instanz. Egal, ob du einfach Austausch mit gleichgesinnten Geschwistern und neue Ideen suchst, ob du eine neue Gemeinde gründen willst, ob du ein gemeindetaugliches Liederbuch, gute Bibelübersetzungen oder ein bibeltreues Literaturprogramm brauchst, ob du einen Referenten für Gemeinde-, Freizeit-, Vortrags-, Kinder-, Jugend-, Frauen-, evangelistische oder diakonische Arbeit suchst oder deinen eigenen aussenden oder anstellen möchtest, ob du die nötigen Gemeinde-Versicherungen oder die GEMA-Abwicklung erledigen musst, Unterstützung bei der Gründung eures Gemeindevereins oder den Service eines gemeinnützigen Sammelvereins nutzen willst – unzählige Ehrenamtliche und rund vierzig überörtliche Teil- und Vollzeitler sind im Verlag, in knapp dreißig Bücherläden, in der Zeltmission, der überörtlichen Jugendarbeit, verschiedenen Zielgruppenarbeiten, einer Stiftung, einem Außenmissions-Komitee, verschiedenen Freizeitheimen und einer eigenen Reisegesellschaft tätig und veranstalten Freizeiten, Seminare, Kongresse und Bibelschulen für Ehrenamtler, die von Christen aus dem eigenen Netzwerk, aber auch weit darüber hinaus genutzt werden.

Stell dir vor, du bist mit deiner Gemeinde Teil davon. Du musst nichts von den Angeboten wahrnehmen, aber alle stehen dir offen. Du hast viele Möglichkeiten, die neutestamentliche Einheit zu leben und das Reich Gottes nach deinen Gaben zu fördern – gemeinsam ist man stärker als allein. Und selbstverständlich bist du weiterhin frei, Angebote von überall anders her in deiner Gemeinde zu nutzen und zu kooperieren, mit wem du möchtest – denn in diesem Netzwerk glaubt man tatsächlich an die Selbständigkeit der Ortsgemeinde.

Dieses – unser – Netzwerk freier Brüdergemeinden hat auch seine Schwächen. Die kennen wir, und wir arbeiten daran. Wieviel von diesen Schwächen in einer Gemeinde zum Tragen kommen, entscheidet aber jede Gemeinde für sich selbst. Denn wir sind tatsächlich alle „frei“.[1]

Übrigens: Gott hat natürlich noch mehr solcher Netzwerke in seinem großen Reich – schau, in welches du mit deiner Gemeinde am besten hineinpasst und mach mit!

GLOBAL: In unserem Fall sind wir Teil einer weltweiten Bewegung, die sich von England in den 1820er Jahren in heute rund 160 Länder ausgebreitet hat und etwa 4 Millionen Menschen umfasst. Wer Interesse hat, einige von ihnen kennenzulernen, kann sich alle vier Jahre zu einer „International Brethren Conference on Missions“ anmelden. Die unterstützenden Missions-Agenturen der Brüdergemeinden auf den verschiedenen Kontinenten haben Missionare und Gemeindekontakte in die meisten Länder der Welt. Egal wo die nächste Katastrophe stattfindet, über unsere Stiftung können sofort Unterstützungskanäle etabliert und z.B. Gelder an christliche Helfer vor Ort weitergeleitet werden. Wem Gott ein Missionsfeld auf’s Herz legt, wo keine deutsche Missionsgesellschaft arbeitet, findet hier oft ein Netzwerk nationaler Gemeinden oder Missionare, mit denen er kooperieren kann. Mitarbeiter von Bibelschulen oder anderen Trainingskursen finden Inspiration im Austausch mit Gleichgesinnten im „Brethren Training Network“, das sich alle zwei Jahre trifft. Wir Deutschen übersetzen hilfreiche, amerikanische Schulungsvideos für Älteste, die Engländer erkundigen sich bei uns nach der Gemeinde-Abendbibelschule, die hier auf große Resonanz stößt. Und demnächst fährt eine Gruppe deutscher Jugendleiter nach Ruanda, um dort von einer faszinierenden Teenager-Arbeit und ihren Leitern zu lernen. – Natürlich wird nicht jeder auf der globalen Ebene aktiv werden. Die Christen in Jerusalem haben sich auch nicht ständig um die in Syrien oder Griechenland gekümmert. Aber es gab Zeiten, da wurde es wichtig, dass man voneinander wusste.

Übrigens, auch auf dieser Ebene: Da wir selbständige Ortsgemeinden sind und nicht nur unsere Bewegung, sondern das Reich Gottes allgemein im Blick haben, arbeiten unzählige Mitarbeiter aus Brüdergemeinden bei unzähligen Werken und Missionsgesellschaften mit, die keiner Gemeinderichtung angehören und einfach mit der Bibel in der Hand Gemeinde bauen oder unterstützen. Auch das ist Teil unserer DNA.

Warum es gut ist, als Gemeinde nicht allein zu bleiben?

Mal andersherum gefragt: Spricht irgendwas dafür allein zu bleiben? Ist das neutestamentliche Vorbild nicht überzeugend, oder die heutige Umsetzung zu kompliziert? Wer wollte denn seiner Gemeinde den Segen biblischer Einheit verwehren und sie von anderen Christen abschotten?

Nicht jeder, der das will, ist ein Diotrephes, der sein Herrschaftsgebiet beschützt, indem er seine Gemeinde isoliert (3Jo 9-11). Manche sind einfach zutiefst geprägt von jahrelangen, schwierigen Erfahrungen in einem Kirchen- oder Gemeindesystem, das zu verlassen sie endlich geschafft haben und nun ihre Freiheit über alles schätzen. Manche lesen mehr schlechte Nachrichten über andere Christen als sie mit ihnen reden. Sie bemerken gar nicht, wie die Negativpropaganda sie abschneidet von der Freude eines Barnabas, der beim Erstkontakt mit einer neuen Gemeinde zunächst mal „die Gnade Gottes sah“ (Apg 11,23). Manche realisieren gar nicht, welche Auswirkungen ihr Gemeindeleben auf andere Gemeinden hat – ob z.B. Brüdergemeinden in Karlsruhe oder Frankfurt neue Studenten überhaupt zu Gesicht bekommen oder nicht, hängt sehr davon ab, was die in ihren Gemeinden z.B. in Schleswig-Holstein oder in der Lausitz erlebt haben.

Wie immer, wird es auch hier für die meisten Gemeinden nicht um ein „Nein, mit niemandem!“ oder ein „Ja, mit allen!“ gehen. Für das Abwägen dessen, was Gott jetzt mit dir und deiner Gemeinde für weise und hilfreich hält, wünschen wir dir Gottes Segen!

 

Zum Weiterdenken

  • -, -,  Was uns die Bibel lehrt – Biblische Standpunkte von Brüdergemeinden, CV, 2001, S. 46-50
  • Colvin, Fred, Soll unsere Gemeinde einem Gemeindeverband beitreten?, in Gemeinde und Mission, April 2002, https://gemeindeundmission.de/?p=98
  • Heading, John, Die Gemeinden des Neuen Testaments, CV, 1990
  • Hesselgrave, David. J., Planting Churches Cross-Culturally, BakerBooks, 1999, S. 297-307
  • Mauerhofer, Armin, Gemeindebau nach biblischem Vorbild, VTR/RVB, 2010, S. 250-269
  • Patterson, George, The Spontaneous Multiplication of Churches, in: Perspektives on the World Christian Movement, Ralph D. Winter (Hrg), Paternoster Press, 1981, S. 602-605
  • Ryrie, C. Charles, Die Bibel verstehen, CV/CLV, 1999, S. 450-457
  • Spender, John A., The Autonomy of Local Churches, in Understanding the Church, Emmaus Journal, Loizeaux Brothers, 1999, S. 153-188
  • Stenschke, Christoph, Übergemeindliche Ausübung von Autorität und übergemeindliche Beziehungen im Neuen Testament, in U. Swarat (ed.). Die Autonomie der Ortsgemeinden und ihre Gemeinschaft: Ein Lehrgespräch des Baptistischen Weltbundes. Theologisches Gespräch, Beiheft 10, Oncken, 2009, S. 18–54.
  • Strauch, Alexander, The Interdependence of Local Churches, in Understanding the Church, Emmaus Journal, Loizeaux Brothers, 1999, S. 189-212
  • Tillmanns, Helmut,  Aus der Bibel unserer Väter, Hrsg.: Eberhard Platte, CV/Platte, 2020

 

[1]      Dieser Artikel ist stark aus der Perspektive Ortsgemeinde geschrieben. Wer regional oder national Gemeinden dient, muss sich noch deutlich mehr Gedanken dazu machen, wie die Spannung zwischen der örtlichen Selbständigkeit und der gegenseitigen Verantwortung im Leib Christi zu navigieren ist. Wie spiegeln wir „den Geist des Neuen Testaments“ am besten wider, wenn wir zwar keine offiziellen Bundesstrukturen haben, aber trotzdem nicht unerheblichen nationalen Einfluss über Werke, Veranstaltungen, Publikationen und Mitarbeiterberufungen ausüben?  Wie kann heute die „Konzilsfunktion“ von Apg 15 erfüllt werden? Damals haben die Apostel Ermahnung und Ermutigung auch über Gemeindegrenzen hinweg ausgesprochen – brauchen wir das heute in unseren Gemeinden nicht mehr? Dürfen – oder sollten – auch reisende Aposteljünger in konkreten Situationen zum Schutz örtlicher Geschwister mit der Bibel in der Hand das tun, was die Aposteljünger damals mit den Briefen von Paulus in der Hand auch taten? – Wahrlich eine Spannung, die mit Weisheit und Demut von allen Seiten zu gestalten ist.

 

Teil 1: Neutestamentliche Grundlagen

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