Selbständig und vernetzt – warum es gut ist, als Gemeinde nicht allein zu bleiben (1)

Teil 1: Neutestamentliche Grundlagen

Früher oder später stellt sich selbst in jungen Gemeinden schon die Frage nach den anderen. Von wem lassen wir uns inspirieren, wer darf uns etwas sagen? Wohin fahren wir zum Auftanken? Aus wessen Liederbuch wollen wir singen, wessen Bibel lesen? Was ist mit anderen Christen am Ort?  Wo gibt es eine Jungschar, solange es bei uns noch nicht genügend Kinder gibt? Oder machen wir lieber doch alles selbst?

Dass keine Gemeinschaft von Menschen völlig autonom ist, merken wir recht schnell – auch keine christliche. Unsere Mitarbeiter haben ihre Prägung und Weisheit gewöhnlich von woanders her mitgebracht, unsere Gastredner werden überwiegend von anderen finanziert, unsere Lieder auch von Christen anderer Gruppierungen geschrieben. Unsere Ehepartner stammen selten aus der gleichen Gemeinde, Missionare oder Katastrophenhilfe bringen wir kaum alleine auf den Weg. Und all die Bücher und Internetartikel, aus denen wir lernen – spätestens hier stellt sich meist die Frage: wieviel von „draußen“ ist eigentlich gut für uns? Wer wird entscheiden, was uns prägt, was bei uns gepredigt oder bei Bibelgesprächen geteilt wird? Und dann, nach dem Studium des Epheserbriefes, die Frage: Wie ist das mit der „Einheit des Leibes“ denn gemeint – sollen vielleicht auch andere etwas von UNS haben?

Wie „unsere“ Gemeinde sich verhalten soll zur großen Gemeinde Jesu insgesamt, das beeinflusst unser Denken, Verhalten, Predigen und Entscheiden nachhaltig – egal ob wir eine noch junge oder eine schon älter gewordene Gemeinde sind.

Wie Gott sich das gedacht hat: Selbständigkeit

Die eine Seite ist: Im ganzen römischen Reich entstehen in den Jahrzehnten nach Pfingsten Gruppen von Jüngern Jesu, die man „Gemeinden“ nennt. Sie werden jeweils von mehreren Ältesten geleitet (Apg 14,23), teilweise ergänzt durch Diakone (Phil 1,1). Entscheidungen treffen sie selbständig vor Ort (Apg 11,29; 13,1-3). Eine dauerhafte, zentrale Leitung der Gesamtbewegung ist nicht erkennbar, auch nicht durch prominente Gemeinden wie Jerusalem oder Antiochia, obwohl von dort am Anfang wichtige Impulse ausgingen. Die Apostel des Herrn – besonders Petrus und Paulus – stehen zwar sehr im Rampenlicht der Berichterstattung und üben durch Besuche und Briefe Einfluss auf etliche Gemeinden aus. Aber auch ihr Wort wird geprüft (Apg 17,11) und von manchen verworfen (2Kor 10). Nach und nach werden sie durch Älteste ersetzt (Apg 11,30; 15,13; 1Pe 5,1; 2Jo 1) und treten hinter der Autorität ihrer Botschaft zurück. Dieses Bild zieht sich durch die Berichte der Apostelgeschichte und die Briefe bis hin zur Offenbarung des Johannes am Ende des Jahrhunderts, in dem der erhöhte Herr sieben dieser Gemeinden direkt anspricht. Keine Zwischeninstanz, noch nicht mal die „Muttergemeinde“ Ephesus spielt eine besondere Rolle – Johannes sieht den Herrn der Gemeinde in der direkten Auseinandersetzung mit jeder einzelnen seiner Ortsgemeinden (Ofb 2+3).

Wir halten fest, dass die Selbständigkeit der örtlichen Gemeinden integraler Bestandteil der neutestamentlichen Praxis war. Wir haben keine Texte, die diesen Umstand theologisch begründen würden, aber viele, die Dienst und gegenseitige Verantwortung in solchen Gemeinden beschreiben, einschließlich der Verantwortung von Ältesten vor Gott für das Wohlergehen ihrer „Herde“ (Apg 20,28; Tit 1,5; Hebr 13,17).

Wie Gott sich das auch gedacht hat: Einheit

Heißt das nun aber, dass die Gemeinde Gottes aus seiner Sicht aus lauter voneinander unabhängigen Einzelgrüppchen bestehen würde? Keinesfalls. Die andere Seite der neutestamentlichen Gemeinderealität ist mindestens ebenso ausdrücklich beschrieben. Das beginnt damit, dass diese Seite eine zentrale Wahrheit sichtbar macht, die dem Herrn Jesus und seinen Aposteln äußerst wichtig war: die Einheit. Jesus beschrieb die „EINE Herde“ als Ziel seiner Mission (Joh 10,16) und betet am Ende inbrünstig, dass „sie alle eins seien, wie du, Vater in mir und ich in dir … damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast“ (Joh 17,11.21-23). Paulus spricht in seinem „Gemeindebrief“ von ihr als dem EINEN neuen Menschen (Eph 2,15), von der fleißig zu bewahrenden EINHEIT des Geistes (4,3) und des Glaubens (4,13) und von dem EINEN Leib Christi, für dessen Wachstum und Zusammenhalt extra „Gelenk-Geschwister“ vorgesehen sind (1,23; 2,16; 4,4.12-16).

Da Einheit also zum innersten Wesen von Gemeinde gehört, wundert man sich nicht mehr über das, was man dann bei ihrer Ausbreitung beobachtet: 

  • Apostel, die zusammenarbeiteten (Gal 2,1-10), ein gemeinsames Evangelium, eine einheitliche Lehre verbreiteten (Apg 2,42; 1Kor 4,17; Eph 2,20) und auch aktiv gegen die Verbreitung von Irrlehren in den Gemeinden vorgingen, die aber keine Machtposition verteidigten, sondern durch Mitarbeiterschulung und -empfehlungen sowie gemeinsame Entscheidungsprozesse dafür sorgten, dass die Arbeit auch ohne sie weiterlaufen würde (Apg 20,28-32; 1Kor 16,10-18; Apg 6,1-6; 15,6-32; 16,10)
  • Briefe, die die Runde unter den Gemeinden machten, selbst wenn manche nur an eine von ihnen gerichtet waren (Gal 1,2; Kol 4,16; Ofb 1,4)
  • Autoren, die trotz konkreter Gemeindeanliegen nie den größeren Kontext der Gemeindebewegung aus dem Blick verloren (1Kor 1,2; 14,33; 1Pe 5,9)
  • Regionen, deren Gemeinden gemeinsam aktiv wurden (2Kor 9,1-2)
  • Gemeinden, die ein Vorbild und Ermutigung waren für andere (1Thes 1,7-8; Rö 1,8), entstehende Probleme miteinander klärten (Apg 15) oder besorgt Anteil nahmen am Ergehen der Arbeit woanders (Apg 8,14; 11,1.22)
  • Mitarbeiter, die Gemeinden auf ihren Reisen dienten oder auch ganz an anderen Orten in einen neuen Dienst einstiegen (Apg 11,22; 18,18f; 20,4; Rö 16,1f)
  • Gastfreundschaft solchen reisenden Mitarbeitern gegenüber (3Jo 5-8)
  • Materielle Hilfe für notleidende Gemeinden, ein freiwilliger Ausgleich von Resourcen, aber durchaus auch als wechselseitige Verpflichtung empfunden (2Kor 8,13f; Rö 15,27)
  • Kommunikation mit Grüßen (Phil 4,22), Nachrichten (Apg 28,15; Rö 16,1-16) und Empfehlungsbriefen (2Kor 3,1; Apg 18,27)
  • Lob und Dank an Gott wegen dem, was in Gemeinden ganz anderer Länder passiert war (2Kor 9,12f; Apg 11,18; 15,3; Röm 16,4)
  • Gebet füreinander (2Kor 9,14; Eph 6,18).

Selbständig und vernetzt

Mit z.T. erheblich mehr Details und Belegstellen kommen alle Autoren der unten erwähnten Zusatzliteratur daher zu dem gleichen Schluss: es ist im Neuen Testament zwar keine dauerhafte menschliche Autoritätsebene über den örtlichen Gemeinden eingerichtet worden, aber es gab eine Menge in den Überzeugungen der ersten Christen und in ihrem Umgang miteinander, was sie intensiv verband und dieser Gott-gegebenen Einheit spürbar Ausdruck verlieh. Im Englischen wird dafür der treffende Begriff „Interdependency“ verwendet, zu deutsch „Wechselbeziehung, Verflechtung, gegenseitige Abhängigkeit“. So hat Gott sich das offensichtlich gedacht: selbständige Ortsgemeinden, die aber vielfach verflochten sind mit Christen anderswo, weil sie einander brauchen, weil sie einander lieben – und einfach, weil es Gottes Absicht von ihrer Einheit entspricht.

 

Teil 2: Praktische Umsetzung

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