Ein Weg aus der Dunkelheit

Mein Elternhaus steht am Rande eines Waldes im Bergischen Land. Um dorthin zu gelangen, folgt man einer kleinen, holperigen Straße. Links des Weges stehen drei Häuser, rechts zwei. Das letzte der beiden Häuser auf der rechten Seite ist das Haus meiner Eltern. Der Weg führt am Hause vorbei weiter abwärts, bis Wald und Weg schließlich in einer leichten Rechtskurve aufeinandertreffen und miteinander verschmelzen.

Wenn ich als kleiner Junge in der Dämmerung nach Hause ging, empfand ich den Wald hinter dem elterlichen Haus immer als bedrohlich. Insbesondere die Stelle, wo der Weg sich am engen Waldeingang verlor und im Dunkeln verschwand, machte mir unbeschreibliche Angst. Je näher ich dem Haus, aber damit auch dem Waldrand kam, umso lauter pfiff ich mir selbst mit allen mir bekannten Sonntagschulliedern Mut zu, bis ich einige Meter vor den ersten schwarzen Waldriesen auf das heimische Grundstück einbiegen konnte, um dann eiligst der Geborgenheit des Vaterhauses entgegenzulaufen.

Das deutsche Wort „Angst“ ist verwandt mit dem lateinischen „angustus“ (dt. „eng“). Angst hat mit Enge zu tun, mit Einengung. Man sieht keinen Ausweg mehr. Man steht mit dem Rücken zur Wand (1). „Angst“ leitet sich auch vom Griechischen „angchein“ ab, das in der deutschen Sprache mit „würgen“ oder „drosseln“ übersetzt wird. Es schnürt sich mir die Kehle zu, mir stockt der Atem, ich bekomme keine Luft mehr (2).

Im Griff der Angst

Angst ist ein Teil unseres Lebens und wird auch zeitlebens unser Begleiter bleiben. Jesus bestätigt das ohne Beschönigung seinen Jüngern gegenüber: „In der Welt habt ihr Angst.“ (a) Und das fing schon ganz vorne in der Bibel an, mit dem ersten Menschen. Auf die Frage „Adam, wo bist du?“ folgt die von angstvoller Selbsterkenntnis bestimmte Antwort „Ich fürchtete mich und versteckte mich.“ (b) Seitdem hat uns die Angst im Griff.

Ann Landers war 40 Jahre lang eine der bekanntesten Kolumnistinnen Amerikas. Bis zu ihrem Tod vor einigen Jahren schrieb sie in mehreren amerikanischen Tageszeitungen Lebenshilfe-Rubriken. Woche für Woche erhielt sie etwa 10000 Leserbriefe. Als sie einmal in einem Interview gefragt wurde, welches das häufigste Problem sei, mit dem man an sie herantrete, sagte sie, ohne einen Moment zu zögern: „Angst.“ (3)

Die Ängste reichen von A bis Z: von der Angst vor einem Atomkrieg und anhaltender Arbeitslosigkeit bis hin zur Angst vor zerstörerischem Zank und zersetzendem Zweifel. Manche unserer Ängste sind relativ klein im Vergleich zu dem, was andere aushalten müssen, aber dennoch real. Auch die Kleinsten haben größte Ängste.

Hatte Jesus jemals Angst?

Auch dem Menschen Jesus Christus war Angst nicht fremd. Besonders deutlich wird dies im Garten Gethsemane. Als Jesus den Garten betrat, „fing er an, betrübt und beängstigt zu werden, zu zittern und zu zagen, und es graute ihn sehr.“ (c)

In Gethsemane und auf Golgatha war Jesus für uns in Angst und Tod. Aber er hat Angst und Tod überwunden, indem er „durch seinen Tod den zunichte gemacht hat, der die Macht des Todes hat, den Teufel, und alle die befreite, welche durch Todesfurcht das ganze Leben hindurch der Knechtschaft unterworfen waren.“ (d)

Man möchte fast sagen: Golgatha ist dadurch und seitdem der einzig angstfreie Platz der Menschheitsgeschichte, weil – wie es Jesaja beschreibt – dort jemand gänzlich „aus der Angst“ (e) getreten ist und einen furchtlosen Raum der Zuflucht geschaffen hat. Auf Golgatha hat Jesus den Anlass für die Todesfurcht weggenommen. Den Tod und die Angst vor der ewigen Gottverlassenheit am finsteren Ort brauchen wir nicht mehr zu fürchten.

Angst und Gebet

Von Jesus können wir den rechten Umgang mit der Angst lernen. In seiner Angst wird er uns zum Vorbild, wie wir mit Furcht umgehen können. Für ihn wird dieser Zustand, der ihn an den Rand des Zusammenbruchs und der Erschütterung bringt, zum Anlass, auf die Knie zu fallen und zu beten, und zwar mit „starkem Geschrei und Tränen“ (f). Als er „anfing, betrübt und beängstigt zu werden, … ging er ein wenig weiter, warf sich auf sein Angesicht, betete und sprach: Mein Vater!“ (g) Er überwindet die Angst im Gebet und wird von oben gestärkt (4). Nebenbei bemerkt: Es kann jemand in größter Bestürzung sein, und die Nächsten bekommen es nicht einmal mit. Ein paar Meter weiter jedenfalls schlafen die Jünger tief und fest.

Was mache ich nun – mit Blick auf Jesus – mit meinen Ängsten? Wenn die Angst den Herrn auf die Knie brachte, warum dann nicht auch mich? Ich darf in meiner Angst einfach beten. Der Sohn sucht den Kontakt zum Vater: „Mein Vater.“ Zu wem sollte ich auch sonst mit meiner Angst gehen als zu meinem Vater, der mir Sicherheit gibt?

Angst und Geborgenheit

Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotheraphie Dr. Michiaki Horie hat in seiner langjährigen Praxis zunehmend mehr Menschen behandelt – auch Christen –, die „von einer lähmenden Angst gezeichnet“ waren. Eine wesentliche Beobachtung seiner Arbeit war, dass „Angst und Geborgenheit in enger Beziehung miteinander stehen“. Wächst beispielsweise bei einem Kind das Gefühl, bei den Eltern geborgen zu sein, nimmt die Angst ab. Fehlt das Gefühl des elterlichen Schutzes, nimmt die Angst zu. „Eine angstfreie Zone … ergibt sich im Bewusstsein absoluter Geborgenheit.“ (2) Wenn ich auf meiner Flucht vor dem Dunkel des Waldes zu Hause ankam, die Tür zum elterlichen Haus sich öffnete, die Hand der Mutter die meine erfasste oder die Stimme des Vaters zu hören war, löste sich die Angst von jetzt auf gleich auf.

Unsere Angstsituationen sind Möglichkeiten für Gott, sich uns auf unserer Lebensreise als noch präsenter und mächtiger zu erweisen, als wir es bislang erlebt haben. Als die Jünger im Sturm ihre Angst hinausschreien und Jesus die Not und Angst von jetzt auf gleich beendet, rufen sie staunend aus: „Wer ist denn dieser?“ (h)

Antitoxin gegen Angst

David hat ebenso erfahren, dass der beste Schutz vor der Angst in der engen Bindung an Gott liegt. Psalm 27 enthält, wie es Charles Swindoll nennt, „ein ungewöhnlich wirksames Antitoxin“ gegen die Angst (5). Dort fragt David: „Vor wem sollte ich mich fürchten? … Vor wem sollte ich erschrecken?“, und gibt sich selbst die Antwort: „Der HERR ist mein Licht und mein Heil. … Der HERR ist meines Lebens Schutzwehr. … Nicht fürchtet sich mein Herz.“ (i)

Die Nöte dürfen nicht realer und riesiger werden als unser himmlischer Vater und seine Zusagen, sie dürfen ihn und sein Wort nicht als schattenwerfende Giganten verdunkeln. Die Angst verliert ihre Größe, wenn sie anhand biblischer Verheißungen richtig eingeordnet wird.

„Fürchte dich nicht, denn …“

Eine Aussage ist dabei besonders klar. Es steht allen landläufigen Behauptungen zum Trotz zwar nicht 365-mal „Fürchte dich nicht“ in der Bibel, aber immerhin 119-mal, so als wollte Gott uns wenigstens jeden dritten Tag daran erinnern. Dieses Wort ist kein göttlicher Befehl, sondern vielmehr als väterlicher Zuspruch zu werten: „Es besteht kein Grund, sich zu fürchten, ich bin bei dir, vertraue mir.“ (6) Jedem der 119 „Fürchte dich nicht“ folgt eine Begründung, die an Gottes Größe und Möglichkeiten erinnert, z. B.: „Fürchte dich nicht, denn ich bin dir ein Schild!“ oder: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst!“ oder: „Fürchte dich nicht. Ich helfe dir!“ (j)

Wer sich an Gottes „Fürchte dich nicht“ hält, hat einen passgenauen Schlüssel zur Tür aus dem Kerker der Angst.

Vielleicht hat die Menschheit so viel Angst vor allem und jedem, weil sie vergessen hat, Gott zu ehren und zu fürchten; vielleicht haben wir so viel Angst, weil uns das ehrfurchtsvolle und glaubende Vertrauen in die Person und die Macht des Herrn abhandengekommen ist (6).

Deshalb möchte ich mich neu an das zeitlos gültige Wort anbinden: „Ich fürchte kein Übel, … denn du bist bei mir.“ (k) Du, der Mensch Jesus Christus, der selbst in Angst und Enge war und mich deshalb bis in die letzte Faser meiner Furcht versteht. Du, der Mensch Gottes, der auf Golgatha endgültig aus Angst und Gericht herausgetreten ist, um mir von dort seine Hände entgegenzureichen und mir liebevoll Mut zu machen: „Was bist du so furchtsam? Hast du keinen Glauben? Ich bin doch bei dir. Fürchte dich nicht!“ (l)

 

Quellenangaben:

(1) Greulich, Walter (Hrsg.): Das Große Weltlexikon in 21 Bänden. Axel-Springer-Verlag, Berlin: 2007, Bd. 1, S. 324.
(2) Horie, Michiaki und Hildegard: Umgang mit der Angst. Rudolf Brockhaus Verlag, Wuppertal: 1991, S. 6.14.19.
(3) Rohner, Roger: Wenn uns das Herz in die Hose rutscht. Predigttext vom 12. Juni 2005 in der Gelleretkirche in Basel, Schweiz.
(4) Frör, Kurt (Hrsg.): Der kirchliche Unterricht an der Volksschule. Evangelischer Presseverband für Bayern, München: 1958, S. 144–145.
(5) Swindoll, Charles: Riesen und Dornen. Vom Kampf und Sieg über sich selbst. Christliche Literaturverbreitung, Bielefeld: 1998, S. 16.
(6) Scherer Kurt: Geborgenheit – Ängste bewältigen, Vertrauen gewinnen – Fürchte dich nicht. Hänssler-Verlag, Neuhausen-Stuttgart: 1989, S. 7.

Bibelstellen:

(a) Johannes 16,33
(b) 1. Mose 3,10
(c) Matthäus 26,37; Markus 14,33
(d) 2. Korinther 5,21
(e) Jesaja 53,8
(f) Hebräer 5,7
(g) Matthäus 26,37-39
(h) Matthäus 8,27
(i) Psalm 27,1-3
(j) 1. Mose 15,1; Jesaja 43,1; Lukas 12,7
(k) Psalm 23,4
(l) Markus 4,40

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