Ein großes Problem der frühen Gemeinde …

… und wie Paulus darauf reagiert

Keine 20 Jahre nach Entstehung der neutestamentlichen Gemeinde gab es ein Problem, das Gemeinden von Jerusalem bis Kleinasien in Atem hielt. Es wurde in den Gemeinden rauf und runter diskutiert – von Jerusalem über Antiochien bis hin in die Gemeinden der heutigen Türkei. Und es betraf den Kern des Glaubens: das Evangelium. Was war geschehen?

Zum ersten Mal zeigte sich das Problem in seiner ganzen Tragweite bei einem gemeinsamen Essen der Gemeinde in Antiochien, also in einer Gemeinde, die schon früh dafür bekannt war, dass dort gläubige Juden und Heiden zusammen eine Einheit bildeten (vgl. Apg 11,19-26). Das war für die damalige Zeit revolutionär, denn im Judentum gab es eine starke Tradition, nach der man das Gesetz (vielleicht mit Berufung auf 2Mo 34,15-16 oder ähnliche Stellen) so verstand, dass allein schon das gemeinsame Essen mit einem Heiden zur Verunreinigung führte – sogar dann, wenn dabei nicht einmal gegen die jüdischen Speisevorschriften verstoßen wurde (vgl. Apg 10,28). Doch solche Bedenken hatten die Christen jüdischer Herkunft in Antiochia nicht mehr. Alle pflegten zusammen die Tischgemeinschaft, sowohl beim Brotbrechen als auch bei normalen Mahlzeiten (Gal 2,12a). Schließlich wussten sie, dass durch das Evangelium eine neue Einheit entstanden war, in der im Verhältnis zu Gott die Herkunft keine Rolle spielte (Gal 3,27- 29). Man brauchte keine Angst haben, dass man sich gegenseitig verunreinigte. Auch Petrus lebte diese Gemeinschaft, bis … ja, bis eines Tages besonders fromme Juden von Jerusalem kamen und Petrus aus Angst, vor ihnen nicht fromm genug zu erscheinen, plötzlich nicht mehr mit den Heidenchristen aß (Gal 2,12). Er und andere Judenchristen machten einen eigenen Tisch auf – und plötzlich gab es zwei Arten von Gläubigen: die besonders frommen, die sogar die jüdischen Vorschriften hielten, und die heidnischen Gläubigen zweiter Klasse, die erst an den frommen Tisch kommen konnten, wenn sie sich ebenfalls nach den jüdischen Vorschriften richteten (Gal 2,14).

Was harmlos aussieht, ist für Paulus ein großes Problem, weil darin der Kern des Evangeliums berührt ist (Gal 2,14). Wenn plötzlich Gläubige, die auf derselben Grundlage errettet und gerechtfertigt wurden, sodass sie vor Gott völlig angenommen und akzeptiert sind, in Klassen eingeteilt werden, passt das nicht mehr zum Evangelium. Wenn plötzlich – entweder durch Worte oder durch Taten – Druck ausgeübt wird und man verlangt, dass Gläubige erst bestimmte Zusatzbestimmungen einhalten müssen, damit sie völlig gerecht vor Gott dastehen, steht die Wahrheit des Evangeliums auf dem Spiel (Gal 2,14-16). Und wenn dann auch noch suggeriert wird, dass diese Zusatzbestimmungen wichtig für die Heiligung und das Heil selbst sind, ist eindeutig eine Grenze überschritten (Gal 2,16).

Doch genau das war in Antiochia geschehen. Und das Tragische ist: Es geschieht auch heute immer wieder. Unbemerkt schleicht sich bei uns Menschen die Tendenz ein, den Glauben an das Evangelium mit gewissen Leistungen anzureichern, um sich die Gerechtigkeit vor Gott zu verdienen. Nicht immer geschieht das durch falsche Lehren, denn solche kann man häufig gut als Irrlehren erkennen und entlarven. Viel häufiger geschieht es stattdessen wie in Antiochia durch ein Verhalten, das ohne große Worte eine erdrückende und fordernde Last auf andere Gläubige legt. Die Folgen sind gravierend, wie die Geschichte des Konfliktes in Antiochia zeigt.

In der Folgezeit ging die in Antiochia so brisant aufgekommene Frage, ob und welche Zusatzvorschriften Heidenchristen einhalten mussten, um gerecht vor Gott zu stehen, durch viele Gemeinden. Selbsternannte Lehrer kamen bis in die jungen Gemeinden der Provinz Galatien, die Paulus auf der ersten Missionsreise gegründet hatte, und verunsicherten sie (Apg 15,1-2; Gal 3,1; 5,12). Sie predigten, dass man zur Rechtfertigung noch einige Vorschriften des alttestamentlichen Gesetzes einhalten müsse wie zum Beispiel die Beschneidung oder bestimmte Festtage (Gal 5,2-12; 4,10). Einige folgten ihnen willig, schließlich fühlt man sich als Mensch sehr wohl, wenn man endlich etwas „leisten“ und sich die Rechtfertigung auch „verdienen“ kann (Gal 3,3; 5,26). Andere brachen unter dieser neuen Last zusammen, bis ihnen die anfängliche Leichtigkeit und die Hoffnung des Glaubens völlig abhanden gekommen waren (Gal 4,15). Aber eines war bei allen gleich: Plötzlich stand nicht mehr das Evangelium, sondern Neid, menschliche Ehre und menschliches Ansehen im Mittelpunkt (Gal 1,6; 4,17; 5,26; 6,12).

Für Paulus ist die Nachricht, dass die Gemeinden in Galatien plötzlich aus ihrer ursprünglichen Festigkeit gefallen sind, höchst alarmierend. Sofort setzt er sich hin und verfasst mit Silas und einigen anderen Brüdern einen Brief (Gal 1,1-2), der deutlich, teils besorgt, teils ironisch, aber immer lehrmäßig klar und mit einem unverwässerten Blick auf das Evangelium versucht, die Galater zu überzeugen. Dabei möchte er ihnen nichts Neues präsentieren, sondern ihnen das neu vor Augen stellen, was ihnen einst als die einfache und frohe Botschaft erschien, nämlich das Evangelium vom gekreuzigten Christus (Gal 2,20; 3,1, 5,24; 6,14). Das Ergebnis findet heute jeder in seiner Bibel – es ist der Galaterbrief.

Und gerade weil die Probleme der Gemeinden in Galatien auch heute noch relevant sind, ist dieser Brief auch heute noch wichtig. Er ist eine geistliche Gesundheitskur, um das Evangelium und seine Bedeutung im eigenen Herzen wieder neu in den Mittelpunkt zu rücken und dabei alle Versuche eines geistlichen Verdienstdenkens dort zu lassen, wo es hingehört: an das Kreuz, an dem der Gläubige mit Christus bereits gestorben ist (Gal 2,20; 5,24).

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