Wie sich eine Gemeinde vor Spaltungen schützen kann

In der letzten Zeit bin ich immer wieder mit dem Problem von Spaltungen in Gemeinden konfrontiert worden.  Solange es Gemeinde Jesu auf dieser Erde gibt, solange hat sie auch mit dieser Gefahr zu kämpfen. Die Bibel lässt  keinen Zweifel daran: Wo Gott wirkt, da macht sich auch der Teufel auf. Er ist es, der seit fast zweitausend Jahren  Zwietracht und Spaltung in die Gemeinden bringt. Aber ich glaube fest, dass wir die Gefahr von Spaltungen  verringern können. Freilich werden wir sie nicht ganz aus der Welt schaffen können. Aber wir können die Gefahr minimieren. William MacDonald nannte einmal in den 1990er Jahren in einem Vortrag in München wertvolle  Grundsätze, die ich hier gerne aufgreifen möchte.

Drei Grundkategorien

Die gesamte Bibel ist Gottes inspiriertes Wort. Aber es ist eindeutig, dass nicht jede Aussage der Bibel dieselbe  Gewichtung hat. Das neutestamentliche Zeugnis der Auferstehung Jesu wiegt ganz gewiss schwerer als das  Geschlechtsregister Esaus im Alten Testament. Darum glaube ich, dass es weise ist, wenn MacDonald die Aussagen  der Bibel im Blick auf ihre Gewichtung in drei Grundkategorien einteilt.

1. Aussagen, die absolut fundamental und grundsätzlich sind

Das sind Dinge, über die nicht verhandelt werden kann. Hier geht es um Grundlagen des christlichen  Glaubens, die alle wahren Christen auf der Welt glauben. Wer diese fundamentalen Aussagen leugnet, ist ein sektiererischer Mensch und ein Irrlehrer.

Zu den Fundamenten des Glaubens gehören zum Beispiel die Inspiration der gesamten Heiligen Schrift in ihren 66  Büchern, die Dreieinheit Gottes (viele falsche Sekten leugnen die Dreieinheit), die absolute Gottheit und Menschheit des Herrn Jesus Christus (auch die wird von vielen Sekten geleugnet), der stellvertretende Tod, die Grablegung und leibliche Auferstehung Jesu, die Errettung allein aus Gnade durch den Glauben, die Wiederkunft des Herrn Jesus  und die ewige Seligkeit der Erlösten und die ewige Bestrafung der Verlorenen. Das alles sind grundlegende, fundamentale Lehren der Schrift und Glaubensinhalte der Christen. Was ihnen widerspricht, wurde eigentlich seit  der Reformation durchgängig als Irrlehre bezeichnet.

Diese fundamentalen Lehren der Schrift wurden und werden  in vielen Gemeinden in einer Art von Glaubensbekenntnis, das die wichtigsten Lehrpunkte der Bibel abhandelt, zusammengefasst.

2. Wichtige Dinge, die aber nicht fundamental sind

Diese Dinge sind wichtig; sonst würde sie die Bibel nicht lehren. Aber sie sind nicht fundamental. Das heißt: Jemand, der diese Dinge anders sieht oder anders praktiziert, ist trotzdem ein Kind Gottes und darum auch mein Bruder.

Nehmen wir zum Beispiel die Taufe. Wir wissen alle, dass es in dieser Lehrfrage sehr unterschiedliche Sichtweisen  gibt – vom extremen Sakramentalismus bei den Befürwortern der Säuglingstaufe bis zum extremen Baptismus auf  der anderen Seite. Wie sichert man nun die Einheit der Gemeinde? Wie kann eine örtliche Gemeinde verhindern,  dass es wegen der Tauffrage zu einer Spaltung kommt?

Zunächst sollten die Geschwister, die eine Gemeinde gründen und aufbauen wollen, die Bibel hinsichtlich dieses Themas gründlich studieren. Wenn sie erkennen, dass die Schrift die Taufe der Gläubigen durch Untertauchen lehrt, dann legen sie diese Sicht als Gemeindelehre fest. Viele Gemeinden lehren und praktizieren zum Beispiel die biblische Taufe. Aber sie zwingen natürlich niemanden  zur Taufe. Nur erwarten sie von allen Geschwistern, gleich ob sie verbindliche Gemeindeglieder sind oder nicht, dass  sie diese Lehrmeinung der Gemeinde respektieren und nicht dagegen arbeiten – weder öffentlich noch im Stillen. Das könnte nämlich sonst die Einheit der Gemeinde zerstören.

Ein weiteres Beispiel aus dieser zweiten Kategorie ist die prophetische Lehre von der Zukunft (Eschatologie). Wir  glauben in unserer Gemeinde in Hünfeld, dass der Herr Jesus vor den Ereignissen der Trübsalszeit zur Entrückung seiner Gemeinde kommen wird. Das ist die Lehrauffassung unserer Gemeinde. Aber wir wissen, dass es  wiedergeborene Christen gibt, die in diesem Punkt anders denken. Manche Gläubige meinen, die Entrückung  geschehe in der Mitte der antichristlichen Trübsalszeit. Manche Christen meinen sogar, die Entrückung sei erst am Ende der Drangsal.

Auch im Blick auf die Stellung und Dienst der Frau in der Gemeinde gibt es unterschiedliche Sichtweisen in den christlichen Gemeinden. Ebenso verhält es sich mit den Gaben des Heiligen Geistes. Wir glauben, dass Gott seiner Gemeinde viele Geistesgaben geschenkt hat; im NT werden mehr als 20 Gaben genannt. Aber wir wissen auch, dass der Apostel Paulus in 1. Korinther 13,8 gelehrt hat, dass drei dieser Gaben aufhören werden. Darum halten wir dafür, dass die Gaben Prophetie, Erkenntnis und Zungenrede in ihrer direkt-inspirierten Form mit  der vollendeten Zusammenstellung des Neuen Testaments aufgehört haben. Wir machen diese Sicht nicht zum ‘Schibbolet’ des Christentums. Aber wir erwarten, dass diese Lehrauffassung der Gemeinde respektiert wird, und dass niemand öffentlich oder im Verborgenen dagegen arbeitet. Das könnte nämlich sonst leicht zu einer Spaltung führen.

Auch in der Lehrfrage ‘Scheidung und Wiederheirat’ gibt es sehr verschiedene Ansichten unter Christen. Wir  glauben, dass Gott grundsätzlich keine Scheidung will; und wenn sie doch geschehen ist, dann will er auf keinen Fall  eine Wiederheirat. Das belegen eine Reihe von Bibelstellen. Es gibt sicherlich noch weitere biblische Themen, die in diese zweite Kategorie gehören; aber wir wollen es jetzt dabei belassen.

In unserer Hünfelder Gemeinde stehen die  Punkte dieser zweiten Kategorie nicht in unseren „Glaubensgrundsätzen“, sondern in unserer „Gemeindeordnung“. Sie sind nicht fundamental. Man darf niemanden, der sie anders sieht, als Irrlehrer bezeichnen. Aber wir halten sie für wichtig; und wir haben die Schrift zu diesen Punkten studiert, und es hat sich eine Lehrauffassung der Gemeinde gebildet, die nicht zementiert ist, aber doch solange gilt, bis uns jemand mit der Bibel in der Hand von einer anderen Sicht überzeugen kann. Wir erwarten übrigens  in unserer Gemeinde von jedem Gemeindeglied die Anerkennung der Glaubensgrundsätze und der Gemeindeordnung. Dieser Weg hat sich bisher voll und ganz bewährt.

3. Dinge, die nicht wesentlich sind

Nach meiner Erkenntnis finden wir diese Dinge im 14. Kapitel des Römerbriefes beschrieben. Die Gemeinde in Rom  bestand aus einem Teil Judenchristen und einem Teil Heidenchristen. Da waren von der unterschiedlichen Prägung  her Spannungen vorprogrammiert. Spannungen entstanden und entstehen meistens dort, wo die Heilige Schrift keine klaren Aussagen macht. In der Bibel sind viele Dinge geboten oder verboten, aber es gibt durchaus Bereiche,  welche die Bibel offenlässt. Hier müssen Christen nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden.

Damals in Rom  fragten die Christen zum Beispiel, ob sie Fleisch essen durften oder nicht, denn alles auf dem Markt erhältliche  Fleisch war zuvor irgendwelchen Göttern geopfert worden. Sollten bestimmte Tage (alttestamentliche Feiertage)  gehalten werden oder nicht? Durften Gläubige Wein trinken oder nicht? usw.

In unserer heutigen Gesellschaft führen andere Fragen zum Streit. Dürfen Christen am Sonntag bügeln oder nicht, Blutwurst essen oder nicht, muss beim Abendmahl Wein verwendet werden oder kann es auch Saft sein? Dürfen christliche Ehepaare Verhütungsmittel gebrauchen oder nicht?

Erkenntnisse und Prinzipien aus Römer 14

Gläubige haben unterschiedlich geprägte Gewissen (14,1-2). Paulus spricht von ‘Schwachen im Glauben’. Das meint  nicht, körperlich oder seelisch schwach zu sein. Es bedeutet auch nicht geistlich schwach sein. Schwache sind  Menschen, die in gewissem Sinn überängstlich sind. Starke hingegen meint in diesem Zusammenhang Menschen mit weiterem, freien Gewissen. Allerdings gibt es keines von beiden in Reinkultur. Christen haben in verschiedenen Bereichen unterschiedlich geprägte Gewissen.

Jeder Gläubige steht und fällt seinem Herrn (14,4). Ich brauche zunächst einmal nicht nach dem Gewissen meines Bruders leben, und meine Schwester lebt nicht nach meinem. Jeder steht vor dem Herrn, der uns alle mit seinem Blut erkauft hat. Er kennt mich und liebt mich. Er weiß auch um die Prägung meines Gewissens. Vor ihm lebe ich, und von ihm werde ich einmal beurteilt (14,10-12). Vor dem  Richterstuhl des Christus wird es nicht um meine Errettung gehen, sondern um mein Leben als Christ, meine Motive  und mein Dienst. „Jeder Christ steht und fällt seinem Herrn …“ ist für mich eine ungeheuer tröstliche Aussage.

Jede Gewissensprägung ist mit  einer Gefahr verbunden (14,3+10). Der Starke ist in Gefahr, den Schwachen zu verachten. „Was, du trinkst keinen Wein? Komm, stell dich doch nicht so an! Ein Gläschen in Ehren …“ Auf den Anderen herabschauen ist Sünde. Der Schwache hingegen ist in Gefahr, den Starken in seiner Freiheit zu  richten. „Was, du nennst dich Christ und trinkst Alkohol? Weißt du denn nicht, was das für ein Teufelszeug ist?“ Den Bruder, der freier denkt und lebt, zu richten ist ebenfalls Sünde. Beide sollen wissen: Christus hat den Anderen angenommen! Nun gilt es, ihn auch anzunehmen, wie er ist (15,7).

Im Konfliktfall soll der Starke dem Schwachen entgegenkommen (14,19-22). Wenn der Schwache mit seinem engen Gewissen den Starken Fleisch essen oder Wein trinken sieht, so kann ihn das aus der Bahn werfen. Wenn nämlich der Schwache – gegen sein eigenes, enges Gewissen – Fleisch isst oder Wein trinkt, kommt er in große innere Konflikte. Es kann ihm zur Sünde oder sogar zum Verderben werden. Das muss der Starke dann wegen seiner Lieblosigkeit mitverantworten (14,23). Darum soll der Starke auf den Schwachen Rücksicht nehmen. Das heißt in der Praxis, neben dem Schwachen nicht auf die eigene Stärke und Freiheit zu pochen, sondern um seiner Schwachheit willen aus Liebe zu verzichten (14,21-22). Der edelste Charakter der Freiheit besteht darin, aus Liebe zum Anderen auf meine Freiheit zu verzichten. Jemand sagte: „Zu mir selbst will ich ein Herz haben wie ein Nadelöhr, aber zu Anderen wie ein Scheunentor.“

In der Gemeinde Jesu steht grundsätzlich die Liebe über der Erkenntnis (1Kor 13,2). „Und wenn ich Weissagung habe und alle Geheimnisse und alle ERKENNTNIS weiß und wenn ich allen Glauben habe, so dass ich Berge versetze, aber keine LIEBE habe, so bin ich nichts.“ Das geistliche Ziel in der Gemeinde ist die gelebte Jesus-Art (14,13; 15,2-3).

Schlussgedanken

Wir haben die Aussagen der Schrift im Blick auf ihre Bedeutung in drei Kategorien eingeteilt. Es gibt Aussagen in der  Schrift mit fundamentalem Charakter. Über diese Dinge dürfen wir nicht streiten; ja, wir dürfen nicht einmal  darüber verhandeln. Gott hat in seinem Wort gesprochen, und wir beugen uns darunter. Punkt.

Dann gibt es Dinge, die sind wichtig. Und es wäre gut, wenn wir auch in diesen wichtigen Dingen so nah wie möglich am Wort Gottes  bleiben wollen. William MacDonald sagte: „Wenn ich schon irre, dann möchte ich so nah wie möglich am Wort Gottes vorbei irren.“

Schließlich gibt es noch Dinge, die von ihrer Gewichtung her nicht wesentlich sind. Um wieviel Uhr der Gottesdienst beginnt, ist nicht wesentlich. Dass er beginnt, und dass der Herr gegenwärtig ist, und dass ich offen bin für sein Reden, das alles ist viel wichtiger. Ob wir Wein oder Saft beim Brotbrechen verwenden, ob wir aus  einem Kelch trinken oder aus mehreren, das alles ist unwesentlich. Aber dass wir den Sieg des Herrn verkündigen, wenn wir von dem Kelch trinken, und dass wir in einer Haltung der Anbetung am Tisch des Herrn dabei sind, das ist wirklich wichtig.

Lasst uns alle miteinander Spaltungen verhüten und viel mehr die Einigkeit bewahren durch das Band des Friedens!

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