Verzeihen – vergeben – versöhnen

Moralisches Unrecht kann man nicht einfach ausradieren. Die Zeit heilt keine Wunden. Uns allen stellt sich irgendwann die Frage, ob wir denen, die uns verletzt haben, verzeihen wollen.

Der Dichter Heinrich Heine schrieb in seinen „Gedanken und Einfällen“: „Ich habe die friedlichste Gesinnung. Meine Wünsche sind: eine bescheidene Hütte, ein Strohdach, aber ein gutes Bett, gutes Essen, Milch und Butter, sehr frisch, vor dem Fenster Blumen, vor der Tür einige schöne Bäume. Wenn der liebe Gott mich ganz glücklich machen will, lässt er mich die Freude erleben, dass an diesen Bäumen etwa sechs bis sieben meiner Feinde aufgehängt werden. Mit gerührtem Herzen werde ich ihnen vor ihrem Tode alle Unbill verzeihen, die sie mir im Leben zugefügt haben. Ja, man muss seinen Feinden verzeihen, aber nicht früher, bis sie gehenkt worden.“

Bei aller Ironie – wälzen wir manchmal nicht ähnliche Gedanken?

Niemand ist ohne Fehl und Tadel

Wir werden als Sünder geboren (Psalm 51,7). Jeder hat Grund, um Vergebung zu bitten. Wir alle sollen bereit sein, zu vergeben. Im Gebet, das Jesus uns gelehrt hat, heißt es schlicht und klar: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Wenn wir nicht vergeben, wird uns auch nicht vergeben. Es ist grundsätzlich immer richtig zu vergeben, und das nicht erst, wenn der Gegner gestorben ist. Es gibt niemanden, der keine Vergebung verdient, sei es der untreue Ehegatte, der Kollege, der mich mobbt, oder andere Menschen, die mir materiell geschadet oder seelischen Schmerz zugefügt haben.

Wer vergibt, gibt. Vergebung ist nie gerecht. Wir haben allen Grund, um unserer selbst willen einander zu vergeben. Vergebung hat erlösende und heilende Kraft.

Enge Beziehungen – erhöhtes Risiko

Je enger die Beziehung, desto größer das Risiko, einander wehzutun. Besondere Vertrautheit geht mit besonderer Verletzlichkeit einher. Es darf uns nicht verwundern, wenn Beziehungen in der Familie, mit der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz oder auch in der christlichen Gemeinde für Zank und Zwietracht speziell anfällig sind. Wir erleben solches nicht nur als Unrecht, sondern oft auch als Verrat. Manche scheinbar unerheblichen Verletzungen schmerzen noch nach Jahren.

Natürlich erleben wir auch uns nahestehende Menschen, die bewusst in Kauf nehmen, uns Schaden zuzufügen. Je nach Charakter reagieren wir darauf mit Wegstecken, Verbitterung, Groll oder sogar mit Rachegefühlen. Hochsensible sind besonders verwundbar; viele geben sich selbst die Schuld für die erlebten Verletzungen.

Das 70×7-Prinzip

Da hilft kein „Schwamm darüber“! Erlittenes Unrecht muss vom Tisch. Das kann auf befreiende Weise nur durch den Akt der Vergebung geschehen. Bei Wiederholungen gilt gemäß Matthäus 18,21.22 das 70×7-Prinzip. Wer verzeiht, gibt dem Wunsch nach Vergeltung eine Absage. „Ihr bekommt meinen Hass nicht“, so schrieb ein Mann an die Mörder seiner Frau.

Wenn wir vergeben, lassen wir Verbitterung, Groll und Zorn hinter uns und entwickeln eine Haltung des Wohlwollens. Wer vergibt, wird aus seiner Opferrolle befreit. Wir sollten damit nicht warten, bis es ans Sterben geht.

Vergeben gleich Vergessen?

Erinnerungen können das Leben verschönern, aber auch belasten, selbst dann, wenn erlittenes Unrecht bereinigt worden ist. Erinnerungen werden durch äußere Reize geweckt: eine bestimmte Melodie, ein Foto oder ein Bild, ein Geruch, eine unerwartete Begegnung. Urplötzlich steht erlittenes oder begangenes Unrecht vor unseren Augen. Wie kann man damit umgehen?

Mir hilft die Vorstellung, dass mein Leben wie eine lange Bahnfahrt mit vielen Stationen ist: Menschen steigen ein, Menschen steigen aus. So ist es mit meinen Erinnerungen. Ich kann nicht verhindern, dass sie plötzlich da sind, aber ich kann sie besonnen auffordern, wieder zu gehen. Ich versuche nicht krampfhaft, zu vergessen und böse Erfahrungen zu verdrängen, sondern blicke dankbar auf die erfahrene Vergebung zurück. So wird Erinnerung zur Erlösung.

Was beinhaltet die Bitte um Vergebung?

Es kann sein, dass wir von einer Bitte um Vergebung nicht recht wissen, ob sie ernsthaft gemeint ist oder ob eine bestimmte Absicht dahintersteckt. Eine aufrichtige Bitte enthält Antworten auf die nachstehenden Fragen:

  • Wird mit der Bitte klipp und klar zum Ausdruck gebracht, falsch gehandelt zu haben, ohne Ausrede und ohne Rechtfertigung?
  • Ist die Bitte begleitet von echter Reue und dem Bedauern, dass Unrecht geschehen ist?
  • Gibt es eine Absichts- oder Willenserklärung darüber, wie es weitergehen oder allenfalls entstandener Schaden wiedergutgemacht werden soll?

Mehr geht nicht! Wer so um Vergebung bittet, macht nichts ungeschehen, und doch ändert sich alles. Sein Gegenüber überdenkt vielleicht sein eigenes Verhalten.

Warum wir vergeben sollen

Um Vergebung zu bitten fällt meist leichter, als zu vergeben. Doch wir sollen jedem vergeben, der uns darum bittet, auch wenn es uns schwerfällt. Das hat mit Demut zu tun.

Es empfiehlt sich, auch denen zu vergeben, die uns nicht darum bitten. Bei kleineren Verletzungen in der Familie und im Freundeskreis kommt Vergebung auch ohne Worte aus; unsere Haltung redet.

Vergebung heißt nicht zwingend, dass eine Beziehung fortgesetzt werden muss.

Vergebung, die uns widerfährt, ist Gnade. „Amazing grace“! Die gleiche Gnade gilt allen Menschen, die uns gegenüber schuldig geworden sind. Gnade ist ein Geschenk, das den Geber alles kostet und den Empfänger nichts.

Wir sitzen alle im gleichen Boot

Hinter jeder Tat steht ein Mensch. Wenn wir vergeben, verzeihen wir dem Menschen, der hinter der Tat steht; die Tat wird damit nicht gutgeheißen. Der Kirchenlehrer Augustin hat gelehrt, die Sünde zu hassen und den Sünder zu lieben: „Es ist leicht und alltäglich, die Bösen zu hassen, weil sie böse sind. Selten aber ist es, sie zu lieben, weil sie Menschen sind.“ Der Mensch ist mehr als das, was er tut. Er ist ein Geschöpf Gottes. Das bleibt er auch, wenn er Unrecht begeht.

Doch Vergebung ist noch nicht Versöhnung. Vergebung hat mit unserem Wollen zu tun. Wir Menschen können und wir müssen wollen – mit Gottes Hilfe! Die Versöhnung mit Gott, mit uns selbst, den anderen Menschen und den gegebenen Umständen – das ist der froh- und freimachende Königsweg.

 

 

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