Ich wünschte, ich wäre unerschütterlich

Unflappable“? Das Wort ist mir neu. Ich bin noch nicht lange in Kalifornien, und immer wieder begegnen mir Vokabeln, mit denen ich bis dato noch keine Bekanntschaft gemacht habe. „Unflappable“ ist eine davon. Das Wort stammt von dem englischen Verb „to flap“, zu Deutsch: „flattern“, und beschreibt die Bewegung einer Fahne im Wind. Du könntest „unflappable“ also mit „un-flatterbar“ übersetzen. Im übertragenen Sinne bedeutet es so viel wie „unerschütterlich“, „unbeirrbar“, „felsenfest“. Bisher habe ich den reifen Bruder, der mir gegenübersitzt, für eben das gehalten: unerschütterlich. Und doch hat er gerade im Verlauf unserer Unterhaltung gesagt: „I wish I were unflappable“ – „Ich wünschte, ich wäre unerschütterlich.“

Das war (soweit ich mich erinnern kann) im Jahr 1995. Mein damaliger Gesprächspartner war der amerikanische Autor und Bibellehrer William MacDonald (1917–2007). Noch im Alter sehnte er sich danach, dass ihn nichts und niemand aus der Fassung bringen könnte; dass er nicht wie ein Fähnchen im Wind bei jeder kleinen „Alltags-Brise“ zu flattern begänne und selbst in Krisensituationen nicht nervös oder wütend würde. In seinen Augen war er es nicht.

Ich bin es nicht

„Ich wünschte, ich wäre unerschütterlich.“ Hinter mir liegen viele Monate „Gemeindestress“ – eine Zeit, die geprägt war von Enttäuschungen, Misstrauen, Angst, Ratlosigkeit und Verzweiflung. Die Details erspare ich dir. Obwohl sich mittlerweile andere um das Problem kümmern, leide ich noch immer an den Spätfolgen dieses Traumas: Manchmal ruft bereits die Erwähnung bestimmter Personen oder Situationen in mir körperliche Reaktionen hervor wie  Herzrhythmus- oder Schlafstörungen; ich bin oft nah am Wasser gebaut, kämpfe mit Selbstmitleid und Bitterkeit, fühle mich entmutigt und angeschlagen, verwundet von Wunden, die „entstanden, als ich im Haus meiner Freunde geschlagen wurde“ (Sach 13,6).

Paulus ermahnt in 1. Korinther 15,58: „Seid fest, unerschütterlich.“ Doch nach 33 Jahren Christsein muss ich gestehen, dass ich es nicht bin – weder in den Stürmen des Lebens noch in den Böen des Alltags. Der Gerechte „wird sich nicht fürchten vor böser Nachricht“, heißt es in Psalm 112,7. In mir aber kommt oft schon am Sonntagnachmittag eine innere Angst davor auf, welche „Überraschungen“ mich wohl bei der Arbeit erwarten werden: eine Flut von E-Mails, die mich überwältigt; die Konfrontation mit einem Fehler, den ich gemacht habe; oder eine Aufgabe, der ich nicht gewachsen bin.

Was ist nur los mit mir? Weshalb bin ich nicht unerschütterlich?

Jesus ist es

Jesus ist unerschütterlich. Obwohl er vollkommen und sündlos ist, spürt er den Wind und die Wellen (vgl. Mt 14,24), die Ablehnung und den Hass seiner Feinde. Ganz Gott ist er doch auch ganz Mensch: Er weint (vgl. Joh 11,35), ist „innerlich bewegt“ (Mt 9,36), wird „von Angst und Grauen gepackt“ (Mk 14,33; NeÜ). „Mit Leiden vertraut“ (Jes 53,3) bleibt er doch felsenfest und unbeirrbar. Zu jeder Zeit. Und in jeder Lage:

  • Während sich „ein heftiger Sturmwind“ auf dem See erhebt, der die Wellen ins Boot schlägt und es mit Wasser füllt, schläft er friedlich „auf dem Kopfkissen“ (Mk 4,38).
  • Als ihn eine wütende Volksmenge aus Kapernaum hinauszerrt und ihn den Abhang hinabstürzen will (vgl. Lk 4,30), schreitet er seelenruhig durch die Meute hindurch.
  • Wohlwissend, dass die Juden nicht mehr als ein Kreuz für ihn übrig haben werden, richtet „er sein Angesicht fest darauf, nach Jerusalem zu gehen“ (Lk 9,51).
  • Während die Jünger bei seiner Gefangennahme panisch mit dem Schwert dreinschlagen, gebietet er ihnen Einhalt mit den Worten: „Hört auf damit!“ (Lk 22,51; NeÜ).
  • Statt sich vor Gericht zu verteidigen, tut er „seinen Mund nicht auf wie das Lamm, das zur Schlachtung geführt wird und wie ein Schaf, das stumm ist vor seinen Scherern“ (Jes 53,7).

Woher nimmt der Herr Jesus seine Unerschütterlichkeit?

Nicht von Menschen. Nach ihnen strecke ich mich oft zuerst aus, wenn die Stürme toben, wenn ich den Halt verliere, wenn Angst und Verzweiflung sich im Herzen breitmachen. Bei ihnen suche ich Bestätigung, Zuspruch, Hilfe und Trost. Jesus aber ist – selbst in seiner tiefsten Not – „von den Menschen verlassen“ (Jes 53,3). Sogar seine engsten Vertrauten suchen das Weite, als sie sehen, wie sich die Schlinge um den Hals ihres Herrn zuzieht (vgl. Mt 26,56). So hat er es ihnen vorhergesagt: „Siehe, es kommt die Stunde und ist gekommen, dass ihr euch zerstreuen werdet, ein jeder in seine Heimat und mich allein lassen werdet“, sagt er in Johannes 16,32. Doch der Vers ist noch nicht zu Ende. Jesus fügt hinzu: „Ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir.“

In einem Sprichwort heißt es: „Einsamkeit ist eine schwere Last, wenn du Gott nicht bei dir hast.“ Der Herr hat ihn bei sich. Bei ihm sucht – und findet – „der Mensch Christus Jesus“ (1Tim 2,5) Halt. Von ihm weiß er sich gekannt und geliebt (vgl. Joh 10,15; 15,9). Auf ihm ruht sein Vertrauen. Auf ihm – und auf seinen Verheißungen. Den Tod vor Augen ist Jesus davon überzeugt, dass sich die Prophezeiung aus Psalm 16,9-10 erfüllen wird: „Auch mein Fleisch wird in Sicherheit ruhen. Denn meine Seele wirst du dem Scheol nicht lassen, wirst nicht zugeben, dass dein  Frommer die Grube sehe“ (vgl. Apg 2,27). Mir wären sicher Zweifel gekommen, ob mich der Vater nach meiner Hinrichtung tatsächlich wieder auferwecken würde. Wie bei einem Patienten vor der Herz-OP, bei der die Ärzte für die Dauer des Eingriffs eine Pumpe stilllegen, die jahrzehntelang geschlagen hat. Ob sie nach getaner Arbeit wirklich wieder „anspringt“?

Auch sein Vertrauen in die Unerschütterlichkeit der Zusagen Gottes macht Jesus unerschütterlich:

  • Obwohl ihm der Gedanke an die bevorstehende Kreuzigung große Not bereitet – er hat Angst, sein Gebet wird heftiger, sein Schweiß ist „wie große Blutstropfen“ (Lk 22,44) – betet er im Garten Gethsemane: „Nicht mein Wille, sondern der deine geschehe!“ (Lk 22,42).
  • Nachdem ihm die „Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten“ zugerufen haben: „Er vertraute auf Gott, der rette ihn jetzt, wenn er ihn liebt“ (Mt 27,43), schreit er mit lauter Stimme in die Finsternis hinein: „Vater, in deine Hände übergebe ich meinen Geist!“ (Lk 23,46; vgl. Ps 31,6).

Mit Blick auf diesen letzten Schrei – ein Zitat aus Psalm 31 – überschrieb ein Ausleger das alttestamentliche Lied mit „Das letzte Wort des Erlösers am Kreuz“. Tatsächlich hat fast jeder Vers des Psalms einen Bezug zu Christus. Ob es sich um das letzte Zwiegespräch des Sohnes Gottes mit seinem Vater handelte? Auffallend ist der vertrauensvolle Grundton: „Bei dir, HERR, habe ich mich geborgen; lass mich niemals zuschanden werden; rette mich in deiner Gerechtigkeit! Neige zu mir dein Ohr, eilends rette mich! Sei mir ein Fels der Zuflucht, ein unzugängliches Haus“ (V. 2-3); „meine Festung bist du“ (V. 4); „du bist mein Schutz“ (V. 5); „du Gott der Treue“ (V. 6); „in deiner Hand sind meine Zeiten“ (V. 16).

Der „Sohn des Menschen“ (Mt 8,20) ist sich des Eingreifens seines Vaters so sicher, dass er ihn schon preist, bevor sein Gebet erhört worden ist: „Ich will jauchzen und mich freuen über deine Gnade, dass du mein Elend angesehen, die Bedrängnisse meiner Seele erkannt hast“ (Ps 31,8).

Du kannst es sein

Jesus hat dir „ein Beispiel hinterlassen“, damit du „seinen Fußspuren“ folgst (1Petr 2,21). Sein Vater ist nun dein Vater (vgl. Joh 20,17), und wie er bei ihm Zuflucht suchte, darfst auch du es jetzt tun.

„Vertraut auf den HERRN allezeit, denn Jah, der HERR, ist ein Fels der Ewigkeiten!“ Dieses Wort aus Jesaja 26,4 (SLT) inspirierte Augustus Montague Toplady (1740–1778) zu dem Lied Rock of Ages (zu Deutsch: Fels der Ewigkeiten): Bei der Durchquerung der Cheddar-Schlucht im Südwesten Englands wurde er von einem Sturm überrascht und flüchtete sich in eine Felsspalte. Als er dort das Ende des Unwetters abwartete, dachte er über den oben zitierten Vers nach und kritzelte den Liedtext auf die Rückseite einer Spielkarte, die er in seinem Versteck gefunden hatte. Die Felsspalte wird heute noch auf Landkarten als Rock of Ages bezeichnet.

Fels des Heils, so der deutsche Titel der Hymne, hat die Errettung des Menschen von seiner Sündenschuld zum Thema. Doch die Bedeutung von Jesaja 26,4 geht darüber hinaus: Du kannst Gott „allezeit“ vertrauen, und er ist in jeder Notlage ein unerschütterlicher Zufluchtsort, sei es in Krisen, Krankheiten oder Konflikten, bei Ängsten, Stress, Enttäuschungen, Versuchungen, Versagen und Schuld.

Durch die ganze Bibel hindurch erklingt der Ruf: „Vertraut auf ihn allezeit, ihr von Gottes Volk! Schüttet euer Herz vor ihm aus! Gott ist unsere Zuflucht“ (Ps 62,9). Dieser Ruf gilt auch dir. Ob in den Stürmen des Lebens oder in den Böen des Alltags: Halt findest du nicht in dir selbst, denn du bist nicht Fels, sondern Staub (vgl. Ps 103,14). Wende dich auch nicht zuerst an Menschen; Gott kann sie zu deinem Segen gebrauchen, aber sie sind doch aus demselben Holz geschnitzt wie du. Es gibt nur einen, der dir wirklich Halt geben kann: den „Fels der Ewigkeiten“.

  • David sagt in Psalm 18,3 über ihn: „Der HERR ist mein Fels und meine Burg und mein Retter, mein Gott ist mein Hort, bei dem ich mich berge, mein Schild und das Horn meines Heils, meine hohe Feste.“
  • Salomo bemerkte: „Ein fester Turm ist der Name des HERRN; zu ihm läuft der Gerechte und ist in Sicherheit“ (Spr 18,10).
  • Die Söhne Korachs sind sich gewiss: „Gott ist uns Zuflucht und Stärke, als Beistand in Nöten reichlich gefunden“ (Ps 46,2).
  • Asaf bekennt: „Mag auch mein Leib und mein Herz vergehen – meines Herzens Fels und mein Teil ist Gott auf ewig“ (Ps 73,26).
  • Und Jeremia sagt zu Gott: „HERR, meine Stärke und mein Schutz und meine Zuflucht am Tag der Bedrängnis!“ (Jer 16,19).

Von C. H. Spurgeon (1834–1892) stammt das Zitat: „Das beständige Gebet ist der große Zufluchtshafen des Himmels. Tausende von Schiffen, von Stürmen gezeichnet, haben dort Schutz gefunden. Wenn ein Sturm aufkommt, tun wir gut daran, mit vollen Segeln darauf Kurs zu nehmen.“

Suche auch du deine Zuflucht bei ihm! Seine Tür ist immer offen. In Jesaja 45,22 lädt er dazu ein: „Wendet euch zu mir und lasst euch retten, alle ihr Enden der Erde!“ Er weist keinen ab (vgl. Joh 6,37), und „wer ihm vertraut, wird nicht enttäuscht werden“ (Röm 10,11; NeÜ). Und klammere dich an seine Verheißungen! Gott kann nicht lügen (vgl. Hebr 6,18): „Zuverlässig sind alle seine Gebote, fest gegründet auf immer und ewig, ausgeführt in Wahrheit und Geradheit“ (Ps 111,7-8).

Er wird dich „bergen in seiner Hütte am Tag des Unheils“, er wird dich verbergen im Versteck seines Zeltes; auf einen Felsen“ wird er dich heben (Ps 27,5). Er hält dich fest an seiner Hand, und selbst wenn du strauchelst, wirst du doch nicht fallen (vgl. Ps 37,23). Du bist in allem „bedrängt, aber nicht erdrückt; keinen Ausweg sehend, aber nicht ohne Ausweg; verfolgt, aber nicht verlassen; niedergeworfen, aber nicht vernichtet“ (2Kor 4,8-9).

Ich möchte es sein

Ich erinnere mich noch gut an jenen Morgen, an dem ich meine Entscheidung getroffen habe. 2. Korinther 7,5 beschreibt meine damalige Situation recht gut: „von außen Kämpfe, von innen Ängste“ – und das über Monate hinweg. Ich sah kein Ausweg mehr, war völlig am Ende. „Halten die Symptome bei Ihnen längerfristig an, ist auf jeden Fall ein Arztbesuch empfehlenswert“, las ich bei Dr. Google. „Ist körperlich alles in Ordnung, sollten Sie darüber nachdenken, ob eventuell ein Besuch beim Psychologen sinnvoll ist. Dies ist besonders dann  empfehlenswert, wenn Sie schon länger unter Symptomen wie Erschöpfung und depressiver Verstimmung leiden.“ Genau das war der Fall, und ich wusste nicht, wie ich neben den Problemen in der Gemeinde auch noch das „normale Leben“ bewältigen sollte. Meine Frau und ich standen in der Garderobe, und ich wollte mich gerade auf den Weg zur Arbeit machen, als mir klar wurde: „Du musst dich entscheiden: Entweder du gehst jetzt gleich zum Arzt und lässt dir ein Antidepressivum verschreiben – oder du setzt dein Vertrauen wieder neu auf den Herrn!“ War er nicht immer noch derselbe Retter, der mich aus dem Zustand ewiger Verdammnis erlöst hatte? Ja! Hatte er sich nicht über die Jahrzehnte hinweg immer und immer wieder als „der treue Gott“ erwiesen (5Mo 7,9)? Ja! Und versprach er nicht in seinem Wort: „Bis in euer Greisenalter bin ich derselbe, und bis zu eurem grauen Haar werde ich selbst euch tragen. Ich, ich habe es getan, und ich selbst werde heben, und ich selbst werde tragen und werde retten“ (Jes 46,4)? Ja!

Abraham „war sich völlig gewiss, dass Gott auch tun kann, was er verspricht“ (Röm 4,21; NeÜ). Mit meinem Glauben war’s nicht ganz so weit her: Er hatte gerade mal die Größe eines Senfkorns (vgl. Mt 17,21). Aber es war der Glaube an einen großen Gott, und mit der kleinen Kraft, die er besaß, klammerte er sich an den Unerschütterlichen: „Fels des Heils, geöffnet mir, birg mich, ew’ger Hort, in dir!“ Mit den Worten Davids darf ich jetzt bekennen: „Er hat sich zu mir geneigt und mein Schreien gehört“ (Ps 40,2). Ich bin „unflappable“ – „unerschütterlich“, wenn ich am Unerschütterlichen hänge. „Nur er ist mein Fels und meine Hilfe, meine Festung; ich werde kaum wanken“ (Ps 62,3).

Auch wenn die Not, in der du dich gerade befindest, größer ist als die, in der ich mich befunden habe: „Er ist reich für alle, die ihn anrufen“ (Röm 10,12). Deshalb: „Wenn … die Erde erbebt und die Berge mitten ins Meer wanken“ (Ps 46,3) – warte nicht und suche Halt bei ihm! 

 

(Zunächst erschienen unter dem Titel „Schaut den Ausgang ihres Glaubens an!“ – Glauben bis ans Ende)

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