EL ROI – „Du bist ein Gott, der mich sieht“

Kiley, eine junge gläubige Praktikantin, erhielt die Gelegenheit, in Ostafrika einen medizinischen Missionseinsatz zu begleiten. In einem Dorf traf sie dabei auf eine Frau mit einem übel verformten Bein. Als sie sich daranmachte, die Wunden zu säubern und dann zu verbinden, begann die Frau mit einem Mal zu weinen. Kiley befürchtete, dass sie der Frau Schmerzen zugefügt hatte, und fragte nach, ob sie ihr bei der Behandlung wehgetan habe. Die Frau jedoch antwortete: „Nein, Sie haben mir keine Schmerzen bereitet, aber es ist das erste Mal seit neun Jahren, dass mich jemand berührt hat.“ (1)

Menschen möchten gesehen und angesehen, nicht übersehen werden – besonders dann nicht, wenn sie in Not sind. Gerade Frauen und Kinder werden schnell missachtet und an den Rand gedrängt. Die „Stuttgarter Nachrichten“ vom 26. November 2022 berichten, dass nach neuesten statistischen Erhebungen jeden dritten Tag eine Frau in Deutschland an den Folgen häuslicher Gewalt stirbt.

Hagar, die Sklavin

Hagar, die ägyptische Magd Abrams und Sarais, ist eine solche Frau, deren Grundsehnsucht nach Beachtung von den Menschen, die für sie verantwortlich sind, ignoriert wird. Vermutlich hat Abram die Ägypterin von seinem eigenwilligen Ausflug ins Land der Pharaonen als Sklavin für seine Frau Sarai mitgebracht. Einfach ist es auf jeden Fall für die arme Hagar im Haushalt Abrams nicht. Abram lehnt mehr oder weniger jede Verantwortung für Hagar ab und übergibt sie der harten Hand seiner Frau Sarai. (a)

Hagar, die Namenlose

Abram ist zweifelsohne ein großer Glaubensheld, aber im Umgang mit Hagar sind weder er noch Sarai ein Zeugnis für ihren Gott. Keiner von beiden spricht Hagar im biblischen Text jemals direkt an. Sie wird auch an keiner Stelle von den beiden bei ihrem Namen genannt, sondern nur als identitätslose „sie“ oder als „die Magd“ bezeichnet, was im Hebräischen „den niedrigsten Rang weiblicher abhängiger Personen bezeichnet“. (2) Sie ist lediglich eine Sache, ein Besitztum, wert- und würdelos. Selbst als sie (gezwungenermaßen) schwanger wird, nimmt niemand Rücksicht auf sie und das ungeborene Leben in ihr. Mutterschutz wird nicht gewährt. Im Gegenteil – sie wird nur noch härter rangenommen.

Hagar, die Flüchtende

Arme Hagar! Eine entwurzelte Sklavin, eine heimatlose Ausländerin, eine misshandelte Namenlose, eine unverheiratete Nebenfrau, eine schwangere Leihmutter. Kein Wunder, dass sie davonläuft; davonläuft vor ihren Peinigern, davonläuft vor ihrem eigenen Leben und sich selbst. Aber nun als schwangerer Flüchtling alleine im Niemandsland unterwegs zu sein kommt einem Todesurteil gleich. Da wird ihr Name „Hagar“ zum Überlebens-Programm, denn „Hagar“ heißt übersetzt „Wanderung“ oder „Flucht“.

Der sehende Gott

Aber einer sieht sie doch: Gott! Und dies ist kein angsteinflößendes Sehen „im Sinne von Kontrolle und Überprüfung“ (2), sondern ein fürsorgliches, mitleidendes, barmherziges Sehen und Hinsehen, „weil du, Hagar, teuer und wertvoll bist in meinen Augen“. (b) In der Tat, „von Gott gesehen zu werden, gibt ihr Ansehen“ und Bedeutung. (2) Wobei es ausdrücklich heißt, dass „der Engel des HERRN Hagar fand“. Sie hatte ihn gar nicht gesucht. Hagar flieht, aber Gott weiß, wo sie ist. Er sucht und findet sie. Da, wo wir am Ende sind, hat Gott einen neuen Anfang für uns.

Der redende Gott

Das erste Wort, das Hagar in ihrer Not hört, ist ihr Name: „Hagar“. Nicht „du Magd“ oder „du da“. Für Gott ist sie keine Sache. „Ich kenne dich mit Namen.“ (c) Und dann stellt Gott ihr zwei Kernfragen, die menschliche Lebensgestaltung im Allgemeinen betrifft, und zwar zum einen mit Blick auf das ewige Heil, zum anderen mit Blick auf die tägliche Nachfolge: „Woher kommst du?“ und „Wohin gehst du?“ Nachdem Hagar ehrlich geantwortet hat, spricht Gott mit ihr über ihre Vergangenheit: „Ich habe dein Elend gehört.“ Er spricht mit ihr über ihre Gegenwart: „Du bist schwanger.“ Er spricht mit ihr über ihre Zukunft und gibt ihr und ihren Nachkommen eine große Verheißung von beinahe abrahamitischer Dimension: „Du wirst einen Sohn gebären … und angesichts aller seiner Brüder wird er wohnen … und deine Nachkommenschaft wird nicht gezählt werden können vor Menge.“ (d)

Der hörende Gott

Den Namen für das ungeborene Kind bekommt Hagar direkt mit auf den Weg, gewissermaßen als Ergänzung zum Gesehen-Werden soll der Sohn „Ismael“ heißen –„Gott hört“ („Der Herr hat dein Elend gehört“). Gott sieht dich, Gott hört dich. Mit diesen Zusagen kann Hagar nun auch den schweren Weg zurück zu Abram und Sarai antreten. Sie glaubt, sie vertraut, sie verlässt sich auf Gott.

Ein Name für Gott

Erstaunlicherweise – welche Herablassung der Liebe Gottes auf die Ergriffenheit Hagars! – lässt sich Gott einen Namen von einem Menschen geben: „Da nannte Hagar den HERRN, der zu ihr redete: ‚Du bist ein Gott, der mich sieht‘ – ‚El Roi‘!“ Dies ist das einzige Mal in der Bibel, dass ein Mensch Gott einen Namen geben darf. Dieses gewaltige Vorrecht wird einer Frau, einer Nicht-Jüdin, einer am Boden liegenden Verlorenen zuteil.

Der innerlich bewegte Gott

Genauso wie Gott hier handelt der Sohn Gottes im Neuen Testament. „Der das Auge gebildet hat, sollte der nicht sehen?“ (e) Jesus sieht und hört und kümmert sich: „Und als Jesus die Volksmenge sah, wurde er innerlich bewegt über sie.“ (f) Er sieht die Frau am Jakobsbrunnen und beugt sich zu ihr hinab; er sieht die Mutter und Witwe aus Nain und gibt ihr ihren Sohn wieder; er sieht die von den Jüngern davongejagten Kinder, ruft sie zurück und nimmt sie in die Arme; er sieht den am Kreuz neben ihm hängenden reumütigen Schächer und nimmt dessen komplette Sündenlast auf sich.

Gott, der Gesprächspartner

Es ist übrigens bei Gott und Hagar ein durchweg wechselseitiges Sehen, Hören und Reden. Gott sieht Hagar, und Hagar sieht Gott. Gott spricht zu Hagar, und Hagar spricht zu Gott. Gott hört Hagar zu, und Hagar hört Gott zu. Was für ein großer Gott! Die, die kaum gesehen wurde, kommt ins Blickfeld. Die, die kaum gehört wurde, findet offene Ohren. Die, mit der kaum geredet wurde, erhält einen Gesprächspartner. Die, die kaum mit Namen genannt wurde, wird mit Namen angesprochen und darf Gott einen Namen geben.

Der Gott, der mich sieht

Hagar könnte mit Maria ein Duett anstimmen: „Meine Seele erhebt den HERRN, und mein Geist frohlockt in meinem Gott, meinem Heiland, denn er hat hingeblickt auf die Niedrigkeit seiner Magd.“ (g)

„El Roi“ – „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Hagar ist angekommen. Der biblische Bericht endet mit dem Hinweis, dass man den Ort der Begegnung zwischen Gott und Hagar fortan den „Brunnen des Lebendigen, der mich gesehen hat“ nannte.

Wahrlich, du bist ein lebendiger Gott, der mich sieht!

 

Literatur:

(1) Gustafson, Tim: „Just A Touch“. In: Our Daily Bread. Our Daily Bread Ministries, Carnforth (Lancashire), England: Entry 2nd April, 2020.
(2) Walter-Krick, Martina und Werth, Martin (Hrsg.): „Du bist ein Gott, der mich sieht“. Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn: 2022, S. 20, S. 116, S. 68.

Bibelstellen:

(a) 1. Mose 16,6
(b) Jesaja 43,1
(c) 2. Mose 33,12.17
(d) 1. Mose 16,7-13
(e) Psalm 94,9
(f) Matthäus 9,36
(g) Lukas 1,47-48

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