Der Holocaust und die Christen: Vom Problem eines salonfähigen Antisemitismus

Antisemitismus heute

Ostern 2023 zogen wieder einmal Hunderte von Palästinensern durch Berlin und forderten die Zerstörung des Staates Israel und den Kampf gegen die Juden, weil diese vorgeblich den Weltfrieden bedrohen. Mehrfach war über Lautsprecher „Tod Israel“ und „Tod den Juden“ zu hören. Einer aktuellen Umfrage zufolge wagen viele deutsche Juden nicht mehr, in der Öffentlichkeit ihre Kippa zu tragen oder sich auf andere Weise erkennbar zu machen, weil sie Diskriminierungen befürchten.

Im Jahr 2022 wurden in Deutschland von der Polizei 2641 antisemitische Delikte registriert. Am häufigsten wurden Juden im Internet diffamiert und bedroht.

Notwendige Erinnerung an den Holocaust

Unter der Herrschaft der Nationalsozialisten wurden in Europa bekanntlich mehr als sechs Millionen Juden grausam ermordet. Weitere Millionen wurden für den Rest ihres Lebens verstümmelt, ausgeraubt und unheilbar traumatisiert.

Manche verdrehen wahrscheinlich schon genervt die Augen, wenn es wieder einmal um den Völkermord an Juden zur Zeit des Nationalsozialismus geht. Tatsächlich besteht die nicht unerhebliche Gefahr, dass bei einer Überfütterung mit dem Holocaust-Gedenken Gleichgültigkeit oder gar Überdruss einsetzt. Auf der anderen Seite gibt es aber immer mehr Menschen, die kaum eine Ahnung vom Holocaust bzw. der Shoah haben und deshalb wieder offen sind für gefährliche, antisemitische Parolen.

Der Holocaust weist auf das Böse im Menschen

Trotz täglicher Schreckensmeldungen aus aller Welt hängen viele Leute noch immer einer grundlegend falschen Vorstellung vom moralischen Fortschritt der Menschheit an. Regelmäßig sind sie dann überrascht und betroffen, wenn wieder einmal krasse Menschenrechtsverletzungen bekannt werden. Hier sollten Christen realistisch sein. Sie wissen von der verführerischen Kraft des Bösen, die in jedem Menschen steckt. Leider ist auch die Wiederholung von Gräueltaten wie dem Holocaust nicht prinzipiell für alle Zeiten ausgeschlossen.

Die Bibel ebenso wie die Kirchengeschichte erinnern an die guten und die bösen Taten der Menschheit. Hier können Christen erkennen, was schlussendlich in jedem Menschen steckt.

Bunter Antisemitismus

Unabhängig von einer öffentlichen Verurteilung des Holocausts durch die Politik verbreiten sich antisemitische Gedanken auch in Deutschland seit Jahren wieder stärker. Besonders ausgeprägt ist der momentan verbreitete Antisemitismus an den politischen Rändern, bei den extrem rechten und linken Gruppen der Gesellschaft. Die einen orientieren sich an den nationalsozialistischen Mythen des vorgeblich zerstörerischen „Weltjudentums“. Die anderen verurteilen den Staat Israel pauschal als Aggressor und stellen gleichzeitig alle Juden als Mitbeteiligte unter Generalverdacht.

Mancher Antisemitismus versteckt sich heute hinter einer verkürzten Wirtschaftskritik. Juden werden dann generell als „Kapitalisten“ betrachtet und Israel als „Ausbeuter“ des Nahen Ostens. Hass auf Juden wird von Linken oft als legitimer Ausdruck ihrer Kritik an der Siedlungspolitik Israels oder der Überwachung von Palästinensergebieten betrachtet.

Eine dritte, den Antisemitismus in Deutschland massiv schürende Gruppe sind Muslime. Vor allem in arabischen Ländern wird seit vielen Jahren eine aggressive Judenfeindschaft gefördert. Dazu werden noch immer Argumente und Schriften der Nationalsozialisten aus dem Deutschen übersetzt, nachgedruckt und weiterverbreitet.

Christen tragen Mitschuld

Wer meint, der Völkermord an den Juden ginge gläubige Christen nichts an, der irrt. Leider haben damals viel zu viele Christen die Ideologie des Nationalsozialismus toleriert oder sogar unterstützt. Erschreckenderweise gab es kaum christlich begründeten Widerspruch. Auch freikirchliche Gläubige müssen sich den Vorwurf des Mitläufertums und Wegschauens deshalb leider gefallen lassen.

„Christlicher“ Antisemitismus

Im sogenannten Dritten Reich traten selbst Prediger, Gemeindeleiter und Älteste den verschiedenen Unterorganisationen der Nationalsozialisten bei. Viele Christen waren weitgehend blind für die Ungeheuerlichkeit des Holocausts. Nur wenige der führenden Gläubigen haben nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ihre Mitschuld eingestanden und bereut, die sich zumeist in zustimmendem
Schweigen geäußert hatte.

Dr. Friedrich Avemarie stammte aus einer frommen, pietistischen Familie. Er betrachtete sich als gläubigen Christen und war aktives Mitglied der Stadtmission. Von 1929 bis 1956 war Avemarie Leiter der Julius-Stursberg-Schule in Neukirchen-Vluyn. Dabei handelte es sich um eine christliche Privatschule auf „biblisch-reformatorischem Glaubensgrund“. Zu Hitler äußerte sich Avemarie: „Wir haben uns rückhaltlos zum Führer zu bekennen, wir müssen ihm die Treue halten und unsre Jugend, als deutsche Jugend, zum restlosen Einsatz aller Kräfte für Volk und Vaterland, also zu kerndeutschen Männern und Frauen erziehen.“ Andernorts spricht er von der notwendigen „Ausmerzung jüdischen Geistes in den Christenherzen“.

Antisemitismus in der Gemeinde

Problematisch sind auch die unter anderem in christlichen Kreisen anzutreffenden Verschwörungserzählungen. Gewöhnlich führen sie alle negativen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen auf eine „geheime Weltregierung“ zurück, die von vielen dann als „jüdische Finanzelite“ verstanden wird. Hier tauchen in neuem Gewand plötzlich alte antisemitische Klischees wieder auf und bereiten den Boden für eine aktuelle Judenfeindschaft.

Bei ihren verdeckt judenkritischen Aussagen beziehen sich manche Christen auf Israel, andere auf mutmaßlich jüdische Unternehmer und Politiker, die vorgeblich an der „Zerstörung des christlichen
Abendlandes“ arbeiten. Dann grenzen sich Christen oft auch gegen das Alte Testament ab oder gegen eine vorgeblich „jüdische Theologie“, die weiterhin eine Veränderung des Menschen und einen beständigen Kampf gegen die Sünde fordert. Das wird als „unchristlich“ oder „ungläubig“ abgelehnt, weil ein Gläubiger alles nur noch annehmen müsse, was ihm bereits von Gott geschenkt worden sei: Gesundheit, Freude, ein heiliges Leben usw.

Juden und Christen vereint

Gegenwärtig gehört nicht nur die Sehnsucht nach dem Reich Gottes zum Alltag der Gläubigen, sondern auch das Gebet um Frieden für das Volk Gottes (Ps 122, 6). Dabei geht es nicht um die Frage, ob gegenwärtige Politiker des Staates Israel immer alles richtig machen. Israel ist ein gewöhnliches irdisches Land, geführt von ebenso eigensüchtigen Politikern wie überall sonst auf der Welt. Und trotzdem wohnt hier das Volk, das Gott bereits vor Jahrtausenden erwählt hat, um sich an ihm zu verherrlichen (2Mo 19,5; 5Mo 14,2). Noch immer ist Israel nach Auskunft der Bibel Gottes Volk. Er warnt jeden davor, sich leichtfertig daran zu vergreifen (Sach 2,12).

Christlicher Einspruch gegen Antisemitismus

In Erinnerung an den Holocaust bzw. die Shoah sollten sich Christen heute für die Freiheit und Sicherheit von Juden in Deutschland aussprechen, auch öffentlich. Gerade angesichts eines wieder zunehmenden Antisemitismus ist das nötiger als noch vor zwanzig Jahren. Solch eine deutliche Stellungnahme kann allerdings auch heftigen Gegenwind und persönliche Diffamierungen zur Folge haben.

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