Zwischen Schutt und Schlamm

Der folgende Erfahrungsbericht wurde mit Blick auf Jugendgruppen geschrieben, die überlegen, wie sie (praktisch) helfen können, doch natürlich gelten die Hinweise für Helfer jeder Altersgruppe! Man kann den gesamten Text lesen oder nur die hervorgehobenen Lektionen.

LKW-Fahrer fluchen. Sirenen heulen neben uns auf. Die Polizei versucht mit Trillerpfeifen zu regeln, was einige Fahrer komplett ignorieren. Viele versuchen sogar auf Schleichwegen von der Autobahn zu kommen. Kilometerweit zieht sich nämlich der Stau Richtung normaler Abfahrt. Pures Chaos schon hier auf der Autobahn, während vor uns das Ahrtal liegt. Über dem Ort Ahrweiler schwebt eine Staubwolke.

Wir sind mit Freunden und einigen Jugendlichen mit drei Autos ins Flutgebiet gefahren, um zu helfen. Das haben wir bereits am Montag geplant. Jetzt am Samstagvormittag, den 24.07.2021, merken wir, dass viele Menschen die gleiche Idee hatten. 😊 Um kurz nach 11 werden wir als eines der letzten privaten Autos ohne Ahrweiler-Kennzeichen ins Stadtgebiet gelassen. Der Stau hinter uns ist krass. Wir erfahren später, dass die meisten Fahrzeuge gegen Mittag wieder nach Hause geschickt werden. Hätten wir nicht ein “offizielles Schild” von To All Nations e. V. unter der Windschutzscheibe, hätte es uns auch schon getroffen.

Lektion 1: Fahre unter keinen Umständen auf eigene Faust in das Katastrophengebiet.

Falls du im Ahrtal helfen willst: Hier kannst du dich über verschiedene Hilfsnetzwerke registrieren: Liebenzeller Mission, Allianz Bonn, To All Nations e. V. (mit konkretem Materialbedarf über die Website), EF Köln-Ostheim, Heidelberg.hilft, Helfer-Shuttle, Carenection (Materialpool und Infoseite). Sie sind teilweise schon lange im Einsatz und können viel eher sagen, wo Hilfe benötigt wird.

Die Adresse für unseren Einsatzort in der Altstadt bekamen wir schon bei der Abfahrt. Das Auto mit unserem Material und Anhänger fährt schon mal vor. Man gab uns den dringenden Tipp die anderen zwei Autos weit entfernt von der Altstadt stehen zu lassen. Ich hatte innerlich schon gestöhnt, da ich mir den Hilfseinsatz ungefähr so vorgestellt hatte: “Wir fahren mit den Autos als Gruppe bis ganz dicht dran und können die dann als Basis für den Einsatz nutzen. Falls es schüttet, wird dann erstmal schön Pause gemacht und sich ins Auto gesetzt 😎.” Das war ganz schön dumm und naiv. Denn ehrlich gesagt hatten wir ja keine Ahnung. Nicht vom Ort, nicht vom Parken, nicht von der Situation. Also entschließen wir uns zu laufen.

LKWs und Traktoren dröhnen laut durch den Staub an uns vorbei. Der legt sich erst, als es zu regnen anfängt. Der Weg zum Einsatzort fühlt sich dadurch nach kurzer Zeit für mich an wie eine Eisbahn. Meine Gummistiefel liegen noch in unserem Materialauto, das bereits vorgefahren ist.🤦 An der angegebenen Adresse dann kein Mensch. Niemand der Hilfe braucht. Keine Ansprechpartner. Planänderung. Die Nachbarn fragen. Alle Häuser rundherum sind bereits versorgt. Planänderung. Wir wechseln den Standort. Niemand braucht Hilfe, aber alle außer uns haben viel zu tun. Menschen mit Eimern, Schaufeln, Stirnlampen, die aus entkernten Erdgeschossen oder Kellern nach oben auftauchen. An den Häusern sieht man deutlich, wie hoch das Wasser stand. Unglaublich! Schwere Maschinen rollen durch die Fußgängerzone. Rödelnde Bagger, die winzig wirken vor den sich auftürmenden Schuttbergen.

Jeder neue Eindruck zeigt uns: Hier wird Hilfe gebraucht. Aber keiner, den wir ansprechen, braucht uns. Es regnet stärker. Wir diskutieren, was wir machen sollen. Drei verschiedene Meinungen. Keiner kann sie begründen. Es wird hitziger. Wir erfahren, dass unser Materialauto irgendwo mitten im Ort zwischen LKWs und Baumaschinen feststeckt. Es geht nicht vorwärts, nicht richtig zurück. Wir bitten zwei Jungs aus dem Materialauto mit dem Werkzeug und den Schubkarren vorbeizukommen. Sie erzählen später, dass einem LKW-Fahrer die Sicherungen durchgebrannt sind. Um ein Haar wäre unser Auto Schrott gewesen. Ich bin Gott dankbar, dass nichts passiert ist. Mittags überreden uns dann Helfer am Eingang der Stadtmauer der mittelalterlichen Altstadt was zu essen. Essen, ohne gearbeitet zu haben: Das ist immer komisch. Jeder hat es sich anders vorgestellt. 

Lektion 2: Falls du noch nie in einem Katastrophengebiet warst: Es wird anders kommen, als du es dir gedacht hast. Es wird unbequemer, du musst spontan reagieren und extrem flexibel sein. Dabei musst du Ruhe bewahren und geduldig sein. Auf keinen Fall solltest du dich ärgern, denn das wäre unpassend, selbst wenn Anwohner dein Hilfsangebot vielleicht reihenweise abweisen.

Die beiden Jungs kommen mit unserem Material. Endlich können wir loslegen. 12:41 Uhr, 90 Minuten nachdem wir in der Stadt angekommen sind und 5,5 Stunden nach unserem Start von zuhause, finden wir den ersten Ort, wo wir helfen können. Da wir ein Team von 11 Personen sind, geht es sehr schnell. Wir helfen Schutt und Sperrmüll von den Straßen zu räumen. Nach 20 Minuten sind jedoch zwei unserer drei Schubkarren platt und die ersten Handschuhe schon eingeweicht. Es regnet immer noch.

Lektion 3Nimm passendes Material mit. Mit Luftreifen-Schubkarren hast du ein sehr hohes Risiko in so einem Gebiet, dir was einzufahren. Du musst sehr viel mehr Kraft aufwenden, wenn du eine platte Schubkarre mit Material durch teilweise 5-10 cm hohen Schlamm fährst. Also am besten ohne Schubkarren oder mit Hartreifen ankommen. Achte auch bei Handschuhen, Werkzeug und Schaufeln auf gute Qualität. Handschuhe mit Schnitt-, Öl-, Nässe- und Durchstichschutz. Bei Schaufeln: Holsteiner Randschaufel bei Schlamm, Frankfurter Schaufel für Erde. Und: Wasserschieber und stabile Schneeschieber sind mega!

Überall um uns herum packen Menschen an, die wir nicht kenen und die uns nicht kennen. Die Hausbesitzer sind dankbar. Damit wir möglichst zügig wieder einen Arbeitsplatz finden, beschließe ich loszugehen und nach neuer Arbeit zu suchen. Unterwegs sehe ich viele Gruppen, die an zerstörten Erdgeschossen stehen und Eimerketten bilden. Eine Feuerwehrfrau bittet mich, sie bei einer Eimerkette bei einem ehemaligen Modegeschäft zu unterstützen. Gespannt gehe ich zurück und informiere unser Team. Zwei Leute lassen wir auf Bitte eines Bewohners noch zurück. Sie werden noch länger gebraucht. Es regnet immer noch.

Lektion 4Schicke 1-2 Leute los, die nachfragen, wo man helfen kann, auch wenn noch vor Ort Arbeit zu tun ist, damit ihr als Gruppe in Aktion bleibt.

Bevor wir weiterziehen, verabschieden wir uns noch von Thomas, dem wir an seinem Haus geholfen haben. Das Untergeschoss seiner ehemals charmant eingerichteten Wohnung ist jetzt entkernt. Wir hören ihm als Gruppe zu. Er verarbeitet das Erlebte noch einmal. Die Welle hat ihn überrascht, sodass er nicht mehr in sein eigenes Haus kam und bei seinem Nachbarn unterkommen musste. Ein Kollege ist in den Fluten gestorben. Einer alten Frau konnte er gerade noch so helfen. Wir lassen ihn reden, fragen immer wieder nach. Die Stimmung ist bedrückt, aber nicht hoffnungslos. Er und seine Frau versuchen zuversichtlich zu sein. Wir haben den Eindruck, dass ihm das Gespräch gut tut. Im Anschluss fragen wir nach, ob wir für ihn beten können und ob wir ihm Bargeld schenken können. Das Geld möchte er lieber an eine Familie mit zwei jungen Kindern in der Nachbarschaft geben. Unser Gebet ist simpel und unspektakulär. Später berichtet uns Jan aus unserer Gruppe, der während des Verabschiedens noch beim Nachbarn geholfen hat, dass ihm Thomas, kurz nachdem wir weg waren, begeistert von dem Gebet und der erfahrenen Hilfe erzählt hat. 🙏

Lektion 5Wir lernen, dass den Menschen ein offenes Ohr und ein längeres Gespräch vielleicht mehr hilft als der perfekt ausgeräumte Keller. Du bist in erster Linie für die Menschen da und nicht für die Arbeit. Gib das, was du kannst, im Vertrauen auf Gott.

Wir ziehen weiter zum Modegeschäft. Immer wieder stehen wir im Kontakt zu unserem Materialauto. Unser Fahrer steht immer noch irgendwo im Ort im Stau zwischen großen LKWs und Radladern. Uns allen sind mittlerweile auf den Straßen Autos mit platten Reifen aufgefallen. 😱 Ich bete mehrmals Stoßgebete, dass er sich nicht auch platt fährt. Das wäre für uns der Super-GAU. Es regnet immer noch.

Lektion 6Meide die direkten Katastrophengebiete mit Privat-PKWs und nimm dir lieber 20 Minuten, um zu Fuß und mit Vollgummireifen-Schubkarren (😉) in den Ort zu fahren. In jedem Fall bei so einem Einsatz: Ersatzrad nicht vergessen!

Beim Modegeschäft sind mittlerweile sehr viele andere Helfer angekommen. Für uns bleibt nichts mehr zu tun. Wir irren also wieder durch die Altstadt auf der Suche nach Arbeit und finden ein Museum, wo wir helfen können. Nach ca. 3 h Stau hat unser Fahrer endlich zur Gruppe gefunden. Jetzt sind wir komplett. Es regnet noch stärker.

Unser Hilfswerk “To all nations” gibt uns einen weiteren Tipp, wo wir helfen können, deswegen teilen wir unsere Gruppe. Ein Teil geht in einen anderen Stadtteil, während der Rest weiter nach Arbeit in der Altstadt sucht. Die gemeinsame Online-Gruppe wird zur Kommunikation jetzt noch wichtiger.

Lektion 7: Ein großes Team macht mehr Spaß und die Arbeit ist schneller erledigt, doch sind mehrere kleine Teams in der Situation vermutlich sinnvoller, da es wahrscheinlicher ist, dass man mit zwei oder mehr Teams schneller Arbeit findet. Wenn ihr unbedingt als große Gruppe zusammenbleiben wollt, solltet ihr sehr konkret absprechen, wohin es geht. Stellt auf jeden Fall sicher, dass ihr mindestens zu zweit seid.

Zwei junge Frauen, die auf der Suche nach frischen Handschuhen sind, sprechen uns auf der Straße an. Wir merken, dass wir ihnen nicht nur mit Handschuhen, sondern auch praktisch helfen können. Eine Minute später stehen einige von uns in einem dunklen Keller eines Mehrfamilienhauses, der unter Schlamm und Wasser steht (ca. 20-30 cm hoch). Die ca. 20 Helfer vor Ort kommen sich mit zu vielen Schubkarren immer wieder in die Quere. An der Kellertür staut sich die Arbeit. Viele Helfer sind da. Einige sprechen kein Deutsch. Alles ist hektisch. Nichts koordiniert.

Lektion 8Versuche mit zu vielen Helfern nicht nur drauflos zu arbeiten. Vermutlich wird sich bei vielen Helfern, die sich gegenseitig nicht kennen, keiner verantwortlich fühlen. Falls keiner das Kommando gibt, sprich dich mit 1-2 Leuten kurz ab, was am besten getan werden könnte und versuche dann mehrere Menschen am Einsatzort zu koordinieren. Trau dich als Jugendleiter ruhig was zu sagen und ergreife Initiative.

An diesem Ort läuft die Arbeit dann richtig gut, nachdem wir alles etwas koordiniert haben. Wir schaffen es tatsächlich, den Keller zu entschlammen und den Schlamm mit einem Gülletank eines Bauern von der Straße zu pumpen. Die Sonne scheint endlich. Wir bleiben bis ca. 17:15 Uhr, während unser zweites Team in einem anderen Stadtteil anpackt. Dann bekommen wir plötzlich die Nachricht, dass alle freiwilligen Helfer aus dem Tal raus sollen. Das gesamte Krisengebiet werde für die Arbeiten am Sonntag und Montag “vorbereitet”. Also brechen wir kurz darauf auf, essen noch was, ziehen uns um und fahren dankbar und mit unvergesslichen Eindrücken nach Hause. Dankbar geholfen zu haben. Dankbar mehreren Personen gedient zu haben. Dankbar für Gespräche und die Bewahrung von Gott.

Für uns war es wie ein Sprint: Morgens früh raus. Alles gegeben. Und abends schnell zurück in unser trockenes und sicheres Zuhause.
Bei uns ist Sommer.
Im Krisengebiet sitzen Menschen in der Kälte in zum Teil stark beschädigten Häusern. Ohne Strom. Ohne Wasser. Mit der Angst vor Plünderungen.
Sie sprechen schon vom Winter.
Für sie wird es ein Marathon.

 

Dieser Bericht enthält persönliche und subjektive Erfahrungen aus dem Krisengebiet. Wir haben ihn veröffentlicht, da wir als Christen sozialdiakonisch und praktisch “vor unserer Haustür” anpacken können. Über Social Media wird das Thema auch bei Jugendlichen präsent bleiben. Falls ihr einen Einsatz plant, soll der Bericht sensibilisieren und gleichzeitig auch ermutigen, als (Jugend-) Gruppe zu helfen. Sammle Leute, älter als 18, die gewohnt sind anzupacken, die helfen wollen, die einfühlsam sind und fahrt hin (Lektion 1 nicht vergessen). Falls es zu weit weg ist: Macht eine Spendenaktion vor Ort und spendet das Geld. Falls ihr Fragen habt, meldet euch bei den Organisationen, die vor Ort sind. Falls ihr etwas im Text falsch findet, bin ich offen für Korrektur: s.krauss@cj-info.de 

 

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