Zornig auf den gnädigen Vater – Das Evangelium für Religiöse

„Auch wenn du von Gott, dem Vater, wegläufst, nimmt er dich mit offenen Armen auf, wenn du zu ihm zurückkehrst.“ Dieser Gedanke ist mir in einer Andacht über Lukas 15 einmal sehr wichtig geworden. Und diese Aussage ist wahr, wichtig und schön. Aber je länger ich mich mit der Bibel beschäftige, desto mehr stelle ich fest, dass sie nicht die Kernaussage des Gleichnisses vom verlorenen Sohn ist.

Ein wichtiges Hilfsmittel, um die Aussage eines biblischen Textes richtig einzuordnen, ist es, sich den Kontext anzuschauen. Konkret: Wem erzählt Jesus dieses Gleichnis zu welchem Anlass?

Viele Zöllner und Sünder wollten Jesus hören. Das hat den Pharisäern und Schriftgelehrten nicht gepasst. „Dieser nimmt Sünder auf und isst mit ihnen“, murrten sie (Lukas 15,2). Das war keine Situationsbeschreibung, sondern ihr Vorwurf. Sie dachten wohl: „Dieser Lehrer ist nicht glaubwürdig. Schaut euch seinen Lebensstil an. Er spricht mit Leuten, mit denen ein frommer Mensch keinen Umgang haben sollte.“

Den Zöllnern und Sündern, den Pharisäern und Schriftgelehrten erzählt Jesus drei Gleichnisse. Zuerst spricht er von einem verlorenen Schaf, dann von einer verlorenen Münze. Beide Gleichnisse haben die gleiche Aussage: Da ist Freude im Himmel über einen Sünder, der Buße tut. Freut euch mit! (Vgl. V. 6.7.9.10.)

Anscheinend war das das Problem der Pharisäer und Schriftgelehrten, dass sie sich nicht darüber freuen konnten, wenn Sünder Buße tun. Die Frage stellt sich: Wie kann es sein, dass gottesfürchtige Menschen sich nicht darüber freuen können, wenn Sünder Buße tun? Das dritte Gleichnis gibt die Antwort auf diese Frage.

Hier die Kurzfassung des Gleichnisses (zu dem noch so viel mehr zu sagen wäre): Ein Vater hat zwei Söhne. Der jüngere Sohn möchte sein Erbe ausbezahlt bekommen. Mit diesem Vermögen zieht er in ein fremdes Land und verschwendet es. Als er kein Geld mehr hat, ist in diesem Land eine Hungersnot. Um zu überleben, hütet er Schweine und sehnt sich danach, den Schweinen das Essen wegzuessen. Der Sohn erkennt, dass er zu seinem Vater zurückkehren muss: „Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin nicht mehr würdig, dein Sohn zu heißen!“ (V. 18.19). Der jüngere Sohn ist ein Sünder, der Buße tut. Da ist Freude über diesen Sünder, der umgekehrt ist. Der Vater ist innerlich bewegt, rennt auf ihn zu, küsst ihn, kleidet ihn ein und veranstaltet ein Fest für ihn.

„Freut euch mit mir“ – das war die Aufforderung in den ersten beiden Gleichnissen. In diesem Gleichnis gibt es jemanden, der sich nicht mitfreut: der ältere Sohn, der die ganze Zeit zu Hause geblieben ist. Statt sich zu freuen, ist er zornig auf den gnädigen Vater (vgl. V. 28) und sagt zu ihm: „Siehe, so viele Jahre diene ich dir, und niemals habe ich ein Gebot von dir übertreten; und mir hast du niemals ein Böckchen gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich gewesen wäre; da aber dieser dein Sohn gekommen ist, der deine Habe mit Huren durchgebracht hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet.“ (V. 29.30) In diesen Worten wird deutlich, warum sich der ältere Sohn nicht darüber freuen kann, dass sein Bruder Buße tut.

1. Sein Bild von sich selbst ist falsch

„Niemals habe ich ein Gebot von dir übertreten.“ Stimmt das? Der ältere Sohn war bestimmt fleißig und hat viel gemacht, aber … er beneidet seinen Bruder, zeigt keine Liebe und keine Vergebungsbereitschaft. Stattdessen fixiert er sich darauf, was er schon alles geleistet hat. Und seine Leistung ist ihm wichtiger als seine Beziehungen – zu seinem Vater und zu seinem Bruder.

2. Die Beziehung zu seinem Bruder ist gestört

Ist dir beim Lesen aufgefallen, dass er nicht von „seinem Bruder“, sondern von „deinem Sohn“ spricht? Diese Formulierung ist ein Kennzeichen einer zutiefst gestörten Beziehung. Außerdem macht er wahrscheinlich falsche Vorwürfe und Übertreibungen. Woher weiß der ältere Sohn, dass sein Bruder sich mit Huren herumgetrieben hat? Im Text vorher ist dies zumindest nicht zu finden.

3. Die Beziehung zu seinem Vater ist gestört

Er will auf einmal nicht mehr zu seinem Vater gehen (vgl. V. 28). Als sich der Vater auf den Weg zu ihm macht, hält der Sohn ihm vor: Für den anderen schmeißt du ein großes Fest, aber ich durfte nie eine kleine Grillparty mit meinen Freunden machen. Du bist so ungerecht, Vater. Du meinst es nicht gut mit mir.

Das Gleichnis endet mit den Worten des Vaters: „Aber man muss doch jetzt fröhlich sein und sich freuen.“ Der Vater
wünscht sich, dass sich sein großer Sohn mitfreut. Haben die Pharisäer und Schriftgelehrten verstanden, dass sie sich über die Zöllner und Sünder freuen sollen, die Buße tun? Merken sie, dass ihr Selbstbild falsch ist und ihre Beziehung zu ihren Mitmenschen und zu Gott gestört ist? Wir erfahren nicht, wie die Zuhörer auf dieses Gleichnis reagieren. Aber wir wissen, dass es die Pharisäer und Schriftgelehrten waren, die dafür gesorgt haben, dass Jesus gekreuzigt wurde.

Findest du dich in diesem Gleichnis wieder? Kennst du Situationen, in denen du auf andere Gläubige herabschaust, weil sie den Kontakt zu „Zöllnern und Sündern“ suchen? Fühlst du dich auch manchmal besser als andere, weil du so viel gedient hast? Merkst du, dass dir diese Leistung für Gott manchmal wichtiger ist als die gestörten Beziehungen zu Glaubensgeschwistern? Merkst du, dass du mit diesem gnädigen Gott manchmal wenig anfangen kannst und zornig auf ihn wirst, weil dein Einsatz nicht genügend gewürdigt wird?

Dann hat dir das Gleichnis von den zwei verlorenen Söhnen viel zu sagen. Denn Gott lädt dich ein, in seine offenen Arme zu laufen und dich mitzufreuen über jeden Sünder, der Buße tut.

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