Wie funktioniert eigentlich Vergebung?

Eine Bergwanderung steht an. Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. Es darf nichts vergessen werden. Die Rucksäcke werden gepackt. Was ist bei der anstrengenden Tour unbedingt zwingend nötig? Und was sollte als unnötiger Ballast möglichst nicht mitgeschleppt werden? Wir planen strategisch, aber in unserem alltäglichen Leben schleppen wir vermutlich zu viel unnötigen Ballast an Negativem mit. Da sind die Verletzungen, die so tief gegangen sind, dass wir unser Wesen unmerklich verändert haben: Wir reagieren nicht nur gereizt, sondern zunehmend zynisch und ziehen uns mehr und mehr zurück, als ob man auf diese Weise nicht mehr verletzt werden könnte. Dabei ist es nicht außergewöhnlich, dass auch Christen sich untereinander Verletzungen zufügen und die unterschiedlichsten Reaktionen darauf zeigen.

Letztlich entscheidet unsere Reaktion über den weiteren Verlauf unseres Lebens

Kain fühlte sich verletzt (1. Mose 4,4-5; Hebräer 11,4). Ein gesenkter Blick und Zorn waren seine Reaktionen, was letztlich zum Brudermord führte. Jakob stahl Esau den Segen (1. Mose 27). Die Reaktion Esaus: erbittertes Geschrei über alle Maßen und bewusster Herzensentschuss zum Mord. All das steht zwischen den Brüdern. Nichts ist vergessen, nichts ist vergeben. Aber Wunden werden nicht dadurch besser, dass man sie offenhält. Jahrzehnte später kommt es zu einer denkwürdigen Begegnung. Esau zieht Jakob mit 400 Mann (1. Mose 32,7-8; 33,1) entgegen. Furcht und Angst bestimmen Jakobs Handeln, nicht der Glaube, obwohl er unmittelbar zuvor eine ermutigende Gottesbegegnung hatte. Es kommt zu einem klärenden Gespräch.

Wie sehen unsere Reaktionen auf Verletzungen aus?

  • Wie oft gehe ich in Gedanken die Vorfälle durch, die mich verletzt haben?
  • Erzähle ich anderen, wie sehr mich dieser Mensch verletzt hat?
  • Wozu neige ich, wenn der Name des „Täters“ fällt – eher etwas Negatives oder Positives über diese Person zu sagen?
  • Habe ich den unterschwelligen Wunsch, dass der Betreffende für das Unrecht, dass er mir angetan hat, bezahlen soll?
  • Was macht es mir aus, wenn dem Menschen, der mir Unrecht getan hat, etwas zustoßen würde?

Hat die erlittene Verletzung bei mir negative Früchte wie Verbitterung oder Unversöhnlichkeit hervorgebracht?

Für diese Reaktion liegt die Verantwortung eindeutig bei mir! Das kann in der Gemeinde des lebendigen Gottes sehr viel Schaden anrichten. Sie zerstört Gemeinschaft und ist ein Einfallstor für Sünde: „… indem ihr darauf achtet, dass nicht irgendeine Wurzel der Bitterkeit aufsprosse und euch beunruhige, und viele durch diese verunreinigt werden“ (Hebräer 12,15). Mit Bitterkeit behalten wir uns quasi das Recht vor, den Betreffenden für sein Vergehen zu bestrafen. Der Weg der Verbitterung ist eine Art der Vergeltung. Wir wollen – unbewusst – Rache nehmen und die Bezahlung der Schuld erzwingen. Aber es steht uns nicht zu, den Anderen zu bestrafen: „Rächet nicht euch selbst, Geliebte, sondern gebet Raum dem Zorn; denn es steht geschrieben: ‚Mein ist die Rache; ich will vergelten, spricht der Herr‘“ (Römer 12,19). Wir übernehmen sonst eine Rolle, die allein Gott zusteht. Statt das Unrecht loszulassen und es an Gott abzugeben (1. Petrus 2,21-23), weil er der Einzige ist, der groß und stark genug ist, um das Problem auf seine vollkommene, gerechte und befreiende Art zu lösen, halten wir krampfhaft an der Verletzung fest. Erlittenes Unrecht „nach oben“ abzugeben, ist der Königsweg der Vergebung.

Vergebung entlässt den Angeklagten aus meiner Aufsicht und übergibt ihn in die Hände Gottes, des gerechten Richters. Das bedeutet nicht, dass Gott den Verursacher ungeschoren davonkommen lässt. Wenn wir Menschen vergeben, die uns Unrecht getan haben, ihnen praktisch „Straffreiheit“ gewähren, dann wird dadurch ihre Sünde nicht verharmlost. Halte ich stattdessen an meiner „Selbstjustiz“ fest, begebe ich mich in ein Gefängnis (Matthäus 18,35) mit all seinen negativen Folgen – bis hin zu gesundheitlichen Problemen. Die Gemeinschaft mit dem Herrn, das Leben unter seinem Segen, fordert geradezu meine Bereitschaft zur Vergebung (Markus 11,25).

Ein Schlüssel zur Vergebung besteht darin, dass ich erkenne, was ich selbst getan habe. In vielen Fällen wird das Opfer zum Täter, wenn es um die Reaktion auf begangenes Unrecht geht. Wir müssen für unsere sündhafte Reaktion die Verantwortung übernehmen. D. h. zuerst steht das Gespräch mit unserem Herrn an (1. Mose 32,26; 1. Korinther 15,5). Dabei helfen uns vier Fragen:

Was geschah?
Was tat ich?
Was hätte ich tun sollen?
Was muss ich jetzt tun?

Epheser 4,31-32 fordert uns auf, jegliche Bitterkeit (im Englischen: „extremely bitter“ = ungenießbar) von uns wegzutun und einander zu vergeben (KJV: „free give“ = schenkt einander Gnade). Wie intensiv betest du für den Bruder, die Schwester, die dir am meisten Mühe macht? Wenn uns bewusst ist, wie viel Schuld uns vergeben wurde, können wir auch anderen Menschen vergeben.

Vergebung ist keine leichte und lockere Angelegenheit. Sie ist schwer. Sie kostet einen hohen Preis. Sie ist schmerzhaft. Sie hat den Herrn Jesus zum Sterben gebracht. An diesem Ort geschah das größte „Un-Recht“ zu unserem Heil – es ermöglichte erst göttliche Vergebung. Unser Herr verlangt von uns nichts, was er nicht selbst getan hat. Vergebung empfangen, Vergebung weitergeben. Das ist der Weg des Kreuzes, das Herzstück des Evangeliums. Unsere Botschaft über die Gnade und Barmherzigkeit Gottes klingt kaum glaubhaft, wenn wir uns weigern, anderen Menschen zu vergeben, und gleichzeitig behaupten, wir hätten von Gott Vergebung empfangen.

Vergebung ist kein Gefühl, sondern ein Willensakt, ein Glaubensakt. Es ist eine bewusste Entscheidung. Auch wenn dem „Täter“ offenbar jedes Bedauern über das begangene Unrecht fehlt oder er mich weiter verletzt (Matthäus 18,21-22), ist es richtig, den Entschluss zu fassen, ihm zu vergeben, obwohl er mich nicht darum gebeten hat. Unser Herr hat es vorgelebt: Als er am Kreuz hing und seinen Vater bat, seinen Mördern zu vergeben. Sobald ich diesen Entschluss fasse, Gott so zu gehorchen gibt er mir auch die Kraft dazu und gießt in unsere Herzen Freiheit, Freude und echte Vergebungsbereitschaft – Bruderschaft kann wieder neu wachsen.

Vergebung ist ein auf Dauer angelegtes Versprechen, das begangene Unrecht niemals wieder gegen diese Person zu verwenden (Kolosser 2,13-14). Die Bereitschaft, einem Menschen zu vergeben, ist häufig der Beginn einer echten Heilung. Vergebung wird dann zu einem Lebensstil, wenn ich in dem Augenblick, da mir jemand Unrecht tut, ihm vergeben kann. Wir dürfen so vergeben, wie Gott uns in Jesus vergeben hat – vollkommen und vorbehaltlos.

„Alles aber von dem Gott, der uns mit sich selbst versöhnt hat durch Jesum Christum und hat uns den Dienst der Versöhnung gegeben: nämlich dass Gott in Christo war, die Welt mit sich selbst versöhnend, ihnen ihre Übertretungen nicht zurechnend, und hat in uns das Wort der Versöhnung niedergelegt.“
2. Korinther 5,18-19

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