Wie erreicht man heute Menschen mit dem Evangelium (nicht)?

„Ich bin Christ. Sprich mich drauf an!“ – Lange Zeit klebten diese Worte gut sichtbar auf meiner Aktentasche. Doch kaum jemand ist dieser Aufforderung nachgekommen.

Ob mit oder ohne Aufkleber: Die Strategie „Lebe als Christ so, dass du nach deinem Glauben gefragt wirst!“ reicht nicht mehr aus, um mit Mitmenschen ins Gespräch über Jesus zu kommen. Trotz unseres Bemühens um ein vorbildliches Verhalten im Alltag erzeugen wir damit wenig Neugier. Im Gegenteil: Für Außenstehende sind unsere  Wertvorstellungen sogar abschreckend.

Selbstbild und Fremdbild: Warum andere uns als Gegner wahrnehmen

Menschen neigen dazu, die Welt in „wir“ und „die anderen“ einzuteilen. Die Guten sind immer wir, denn damit  schützen wir unser positives Selbstbild. In der Folge sind die Unterschiede in unserem christlichen Denken für  (noch) Nichtgläubige verdächtig und werden negativ bewertet.

Wenn wir z. B. gegen Abtreibung argumentieren,  setzen wir uns in den Augen unserer Zeitgenossen nicht für das Leben, sondern gegen das Selbstbestimmungsrecht  von Frauen ein. Wir werden mit unserem Verständnis von Ehe und Familie nicht als Vorbilder angesehen, sondern als Gegner von modernen Lebensentwürfen oder als Feinde von Homosexuellen. Dass wir für unsere Haltung  Bibelverse anführen können, beeindruckt unsere Zeitgenossen erst recht nicht. Denn zum einen kennen sie biblische  Inhalte und Zusammenhänge kaum noch. Zum anderen gehen die wenigsten Menschen noch davon aus, dass es eine absolute Wahrheit gibt, die für alle gültig ist. Der zunehmende Individualismus lehrt: Der Einzelne trägt selbst die Verantwortung dafür, was für ihn „richtig“ ist. Wenn wir die Legitimation für unser Denken und Handeln aus der Bibel ableiten, verwechselt man uns leicht mit gefährlichen „Fundamentalisten“. Damit verbunden sind Vorurteile wie: „Glaube an Gott ist fortschrittsfeindlich“ oder: „Religion ist die Ursache für Krieg und Terror“.

Gespräche über moralische Werte mit Außenstehenden können daher leicht im Streit enden. Empfinden andere uns  als Gegner, die den moralischen Zeigefinger erheben und ihnen Vorwürfe machen, werden sie sich kaum öffnen.

Beziehungen reduzieren Vorurteile

Häufige Kontakte, die positiv erlebt werden, helfen, Vorurteile abzubauen. Wer erwartet, in einem kurzen Gespräch anhand eines Traktats andere davon überzeugen zu können, dass sie Jesus als ihren Retter brauchen, wird häufig Frustration erleben. Trotzdem sollen wir dafür offen sein, dass Gott uns auch im Alltag Menschen begegnen lassen  will, die er bereits vorbereitet hat (dafür verständliche Schriften dabei zu haben, kann sich als sehr wertvoll  erweisen). Doch Menschen, die dem Glauben an Jesus kritisch gegenüberstehen, sind zunächst oft in ihrem Denken  gefangen. Von klein auf haben sie in der Schule und durch die Medien gelernt, dass die Welt ohne Gott durch  Evolution entstanden und die Bibel nicht wissenschaftlich sei. Diese Prägung lässt für sie den Glauben
an einen personalen Gott, der Mensch geworden ist und mit uns in Kontakt sein will, „unglaubwürdig“ erscheinen.

Solange solche Menschen überzeugt sind, ihr Leben im Griff zu haben, kommen sie von alleine nicht darauf, ihr Weltbild infrage zu stellen. Wenn wir sie mit dem Evangelium erreichen wollen, müssen wir sie zunächst  schrittweise dahin führen, die Unschlüssigkeiten und Fehler in ihrem Weltbild zu entdecken. Dazu müssen wir  Anlässe schaffen. Ohne Worte wird das nur selten funktionieren. Wir müssen bereit sein, als Zeugen den Mund  aufzumachen und von unserem Leben mit Jesus zu erzählen. Doch erfolgversprechender als lange Predigten ist es im Einzelgespräch oft, gute Fragen zu stellen. Wer fragt, der führt. Gute Fragen bringen Menschen tiefer ins  Nachdenken über die eigene Position, als wenn sie sich lange Vorträge anhören müssen (von denen sie nur einen kleinen Teil aufnehmen und verarbeiten können).

Je besser wir unser Gegenüber kennen, umso treffendere Fragen können wir dem anderen stellen. Je  freundschaftlicher das Verhältnis ist, umso eher wird der andere hinter unseren Worten ein liebevolles Interesse an  seinem Wohlergehen sehen. Denn der Kern des Evangeliums ist: „Gott hat die Welt (die Menschen) so sehr geliebt   …“ (Joh 3,16). Darum ist die Liebe zu unserem Gesprächspartner die wichtigste Voraussetzung in unserem Reden und Handeln. Unsere Gesprächspartner sollen uns anmerken können, dass wir ein echtes Interesse an ihnen haben.  Sie sind kein Mittel zum Zweck, damit wir durch unseren Missionseifer bei Gott Punkte sammeln. Sie sind keine  Gegner, die in allen Positionen falsch liegen, während wir meinen, in allem recht zu haben. Sondern wir wollen sie als Freunde sehen, die wir besser kennenlernen wollen. Wir wollen ihr Denken verstehen, um sie durch gute Fragen  immer näher zu Jesus zu führen. Auf dem Weg dorthin müssen wir es geduldig aushalten, auch ablehnende oder  provozierende Reaktionen zu erhalten.

Von Jesus selbst lernen

Das beste Vorbild ist der Herr Jesus selbst. Sein  Gespräch mit der Frau am Jakobsbrunnen gibt uns bis heute viele Ansätze, von denen wir lernen können (Joh  4,1-42):

  • Der Herr steigt mit einer alltäglichen Angelegenheit ins Gespräch ein. Mit seiner Bitte um Wasser kommt er in Kontakt. Er begegnet der Frau an dem Ort, an dem sie sich auskennt (und erwartet nicht, dass sie einmal zu einer seiner Predigten in eine Synagoge kommen wird).
  • Seine Ansprache lässt die Frau die Wertschätzung ihrer Person erkennen.
  • Der Herr eröffnet das Gespräch nicht mit Vorwürfen oder Zitaten aus dem AT, mit denen er auf die Sünde des Ehebruchs hinweist. Stattdessen zeigt er der Frau ihr eigentliches Bedürfnis nach dem lebendigen Wasser.
  • Liebevoll deckt er über die Frage nach ihrem Mann die Wahrheit über ihre Schuld auf.
  • Als die Frau daraufhin mit einer Frage scheinbar das Thema wechselt, geht Jesus darauf ein und kommt doch wieder zurück zum zentralen Punkt, an dem die Frau erkennt: Es ist der angekündigte Messias, der mit ihr  redet.
  • Er bedrängt sie nicht und gibt ihr Zeit und Gelegenheit, das Erlebte zu verarbeiten.

Wie dieser Frau ist der Herr Jesus unzähligen Menschen auf ganz persönliche Weise begegnet. Er hat dabei keine „Einheitsmethode“ benutzt. So hat er z. B. mehrere Blinde geheilt – aber er ist dabei ganz individuell vorgegangen.  Bei einer Gelegenheit heilte er einen Aussätzigen, indem er ihn liebevoll berührte (was dieser aufgrund seiner  Krankheit lange nicht mehr erlebt haben dürfte); ein anderes Mal wirkte er nur durch die Kraft seiner Worte. Wie  individuell der Herr Jesus auf die Ausgangsvoraussetzungen seines jeweiligen Gegenübers eingegangen ist, sehen  wir auch in seiner Wortwahl: Während er im Gespräch mit Schriftgelehrten Aussagen aus dem AT erklärte,  veranschaulichte er seine Botschaft in Alltagssituationen durch verständliche Beispiele aus dem täglichen Leben.

Von dieser Art können wir lernen, aktiv auf Menschen zuzugehen. Wenn wir ihnen mit aufrichtigem Interesse  begegnen, lassen sich auch heute noch Menschen dafür gewinnen, sich für tiefergehende Gespräche zu öffnen.

Doch  über allem ist und bleibt es das Werk Gottes, durch seinen Heiligen Geist Menschen zu überführen. Wie Paulus  dürfen wir beten, dass Gott uns eine Tür öffnet, die Botschaft von Jesus klar und verständlich weiterzugeben (Kol  4,3). Er kann (und will!) uns Weisheit schenken, Gelegenheiten zu erkennen und zu nutzen. So gilt uns die Frage:  Haben wir das „Schuhwerk der Bereitschaft, das Evangelium des Friedens zu verbreiten“ angezogen, das zur  unverzichtbaren Waffenrüstung unseres Lebens als Christ gehört (Eph 6,15)?

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