Wenn der Löwe brüllt – Amos‘ Botschaft in seiner Zeit

„Worte des Amos – der unter den Schafzüchtern von Tekoa war –, die er über Israel geschaut hat in den Tagen des Ussija, des Königs von Juda, und in den Tagen Jerobeams, des Sohnes des Joasch, des Königs von Israel, zwei Jahre vor dem Erdbeben. Und er sprach: Der HERR wird von Zion her brüllen und aus Jerusalem seine Stimme erschallen lassen: Da vertrocknen die Weideplätze der Hirten, und der Gipfel des Karmel verdorrt.“

Mit diesen Worten beginnt das Buch des Propheten Amos. Darin wird der Prophet kurz vorgestellt, der zeitliche Rahmen dargestellt und die Kernbotschaft formuliert.

In Israel (dem nördlichen Reich des geteilten Gottesvolkes) herrscht Wohlstand und politische Stabilität. Die umliegenden Völker sind befriedet. Eine gewisse, zumindest äußerliche Frömmigkeit gehört zum guten Ton. Aber es gibt auch soziale Ungerechtigkeit und mangelnde Bereitschaft, Gottes Wort zu gehorchen. In diese Situation hinein redet Amos, ein „Ausländer“ (aus dem südlichen Nachbarstaat Juda) und theologischer Laie (ein Bauer ohne jegliche „Bibelschul-Ausbildung“, vgl. 7,14-15). Eine denkbar schlechte Konstellation für ein erfolgreiches Wirken.

Und doch – was Amos sagt, ist Gottes Reden. Es ist ein Brüllen aus Zion, dem Wohnort Gottes. Das ist keine Wutrede, kein zorniges Geschrei, sondern der Achtung gebietende Warnruf eines Löwen (vgl. 3,4.8).

Es wird übrigens das vorletzte Reden Gottes zu den Menschen im Nordreich Israel sein. Die letzte Mahnung Gottes wird dann wenig später durch den Propheten Hosea erfolgen und eine einzigartige, aber unerwiderte Liebeserklärung Gottes an sein Volk sein. Leider wird das Volk weder auf das Brüllen noch auf das Werben Gottes angemessen reagieren, sodass nur wenige Jahrzehnte später das angekündigte Gericht mit voller Wucht eintreffen wird.

Die Botschaft, die Amos überbringt, ist keine schöne Nachricht. Es ist eine Gerichtsankündigung, eine Warnung an die Menschen, nicht einfach so weiterzumachen. Es ist ein Ruf zur Umkehr, hin zu Gott.

1. Gott ist gerecht, wenn er richtet (Kapitel 1–2)

Zunächst redet Amos über die Nachbarn. Gott wird an den umliegenden sechs heidnischen Völkern und dem „Bruderstaat“ Juda Gericht üben. „So sende ich Feuer“ ist ein „Refrain“ dieser Gerichtsbotschaften. „Wegen drei Verbrechen und wegen vier“ werden diese Gerichte kommen: Sie sind verdient und daher gerecht. Und sie werden sicher kommen: „Ich werde es nicht rückgängig machen.“ Diese Botschaft wird vor Israels Ohren gesprochen. Und gleich im Anschluss wird auch für Israel mit denselben Formulierungen Gottes Gericht vorausgesagt. Während bei den Nachbarn die Sünden nur kurz angerissen werden (es wird jeweils stellvertretend eine Sünde genannt), wird das Volk Gottes wegen sieben konkret benannter Sünden („wegen drei Verbrechen und wegen vier“) angeklagt. Damit wird deutlich: Gott ist gerecht. Er legt überall den gleichen Maßstab an. Er reagiert niemals willkürlich oder aus einem Affekt heraus. Jede Sünde wird durch ihn ein verdientes und angemessenes Urteil finden. Bevor die Zuhörer selbst angeklagt werden, wird ihnen Gottes Gerechtigkeit im Gericht gezeigt.

2. Gott muss sein auserwähltes Volk richten (Kapitel 3)

Der Adressat der Gerichtsbotschaft ist Gottes auserwähltes Volk, das er einst aus der Sklaverei Ägyptens gerufen hat (3,1). Die besondere Stellung des Volkes bringt auch eine besondere Verantwortung mit sich. Gerade deshalb muss Gott sein Volk richten (3,2). „Wem man viel anvertraut hat, von dem wird man desto mehr fordern“ (Lk 12,48; vgl. auch 1Petr 4,17).

Amos macht das an einigen Alltagsbeispielen weiter deutlich: Jede Wirkung hat eine Ursache (3,3-6). So ist auch das kommende (Gerichts-)Unglück von Gott bewirkt. Wenn Propheten reden, dann deshalb, weil Gott ihnen etwas mitgeteilt hat. Dieses „Löwenbrüllen“ Gottes sollte wiederum eine bestimmte Wirkung haben, nämlich ein heilsames Erschrecken der Zuhörer.

Gott beruft nicht nur die Propheten (3,7), die dann in seinem Namen seine Botschaft rufen (3,8). Er ruft sogar die Heiden als Zeugen der Schuld seines Volkes auf (3,9-10), als so schlimm empfindet er die Zustände dort. Dann ruft Gott das Gericht herbei (3,11ff.), und das wird schrecklich sein. Der Löwe brüllt: Es ist ein Gerichts-Ruf Gottes.

3. Gott ruft zur Umkehr (Kapitel 4–6)

Der Gerichtsruf ist zugleich ein Ruf zur Umkehr. Vorher hat Amos konkrete Sünden gebrandmarkt (2,6ff.). Jetzt zeigt er die falsche innere Einstellung der Zuhörer auf (4,1-11). Da kommen die schlechten Folgen des Wohlstands (nämlich Unbarmherzigkeit und Völlerei) ebenso zur Sprache wie die falsche Sicherheit eines nur formell korrekten Gottesdienstes. Vor allem aber wird die Unbußfertigkeit des Gottesvolkes angeprangert. Die Klage Gottes „doch seid ihr nicht bis zu mir umgekehrt“ wird innerhalb weniger Verse fünfmal wiederholt (4,6-11).

Amos ruft das Volk eindringlich auf, diese falschen Einstellungen zu ändern: Bedenkt, dass ihr vor Gott stehen werdet (4,12)! Sucht Gottes Gegenwart und die Beziehung zu ihm (5,4.6)! Tut Gutes und meidet das Böse (5,14)! Und überdenkt euren Gottesdienst (6,20-24)!

Gleichzeitig zeigt Amos aber auch die Hinderungsgründe für eine echte Gottesbeziehung auf. Einer frommen Selbstüberschätzung, die sich Gottes Zorn und sein Gericht im eigenen Volk nicht vorstellen konnte, muss er entgegnen: „Wehe denen, die den Tag des HERRN herbeiwünschen“ (5,18). Es herrscht eine gefährliche Gleichgültigkeit in geistlichen Dingen: „Über den Zusammenbruch Josephs sind sie nicht bekümmert“ (6,6). Stolz und Hochmut beherrschen das Denken. So wird geprahlt: „Haben wir nicht mit unserer Kraft …?“ (6,13). Gott bleibt nichts anderes übrig, als sein Volk zu demütigen.

4. Amos’ Visionen (Kapitel 7-9)

Sind diese harten Worte wirklich Gottes Botschaft an das Volk? Amos berichtet über fünf Visionen, die diese Botschaft bestätigen und legitimieren.

Nach den ersten beiden Visionen (1. Heuschrecken fressen alles auf; 2. Feuer frisst Wasser und Land) bittet Amos jeweils für das Volk. Und Gott lässt sich erbitten. Diese Gerichte treffen nicht ein. Aber die nächste Vision (3. ein Senkblei) macht deutlich: Es wird Gericht geben, das ist sicher. Gott wird sein Volk nicht mehr verschonen. Er ist barmherzig, aber nicht auf Kosten seiner Gerechtigkeit.

Ein gedanklicher Einschub (der Bericht von einer Intrige durch den Priester Amazja) verdeutlicht: Amos redet im Auftrag Gottes, und er redet in diesem Auftrag vom Gericht Gottes, das persönlich und zielgenau eintreffen wird. Nebenbei zeigt diese Geschichte: Gottes Botschaft zu verkündigen schafft auch Feinde.

Die nächste Vision (4. ein Korb mit reifem Obst) redet davon, dass das Gericht bald eintreffen wird. Die Zeit ist nun reif dafür. Darüber hinaus wird es zwei Naturphänomene (ein Erdbeben und eine Sonnenfinsternis) geben als Zeichen, dass Gott sein Volk wirklich richten wird. Das Erdbeben geschah dann auch zwei Jahre nach der Prophetie des Amos (1,1). Darüber hinaus werden diese Phänomene in der Zukunft in Zusammenhang mit der Großen Trübsal Israels eine Rolle spielen (Sach 14,4-7; Offb 6,12). Gott wird dadurch deutlich machen: Er richtet die Schuld seines Volkes. Und noch eine Assoziation drängt sich auf: Matthäus (der ja vornehmlich Leser mit jüdischem Hintergrund im Blick hat) berichtet auch von diesen beiden Naturphänomenen, und zwar in Bezug auf den Tod des Herrn Jesus (Mt 27,45.51). Gott zeigt damit: Er richtet die Schuld seines Volkes. Aber er richtet sie – stellvertretend – an seinem Sohn Jesus Christus! „Wegen des Vergehens seines Volkes hat ihn Strafe getroffen“ (Jes 53,8).

Mit der letzten Vision (5. der Herr am Altar) wird noch einmal deutlich unterstrichen: Gottes Gericht wird vollständig sein. „Alle Sünder meines Volkes werden … sterben“ (9,10).

5. Am Schluss: Wiederherstellung (Kapitel 9,11-15)

Das Gericht Gottes ist notwendig und gerecht. Aber es ist nicht das letzte Wort. Amos zeigt am Schluss einen hellen Ausblick in die Zukunft. Gott wird Israel als Nation wiederherstellen. „Ich richte die verfallene Hütte Davids auf“ (9,11). Gleichzeitig wird er eine neue GottesBeziehung schaffen: Das Buch endet mit den bemerkenswerten Worten:
„Der HERR, dein Gott!“

Auch wenn die Botschaft des Amos vor allem Gericht beinhaltet, weist das ganze Buch auf Gott als Person hin. Es gibt drei einzigartige Beschreibungen der Größe Gottes (4,13; 5,7-9; 9,5-6), die es wert sind, genauer studiert zu werden (das würde allerdings den Rahmen dieses Artikels sprengen). Er wird neunmal der „Gott (oder Herr) der Heerscharen“ genannt: Gott ist der Ehrfurcht gebietende, der alles unter Kontrolle hat, der Völker- und Heerscharen dirigiert und für seine (Gerichts-)Zwecke nutzt. Gleichzeitig ist er aber auch der ganz persönliche Gott, der sein Volk in einer echten Beziehung zu sich sehen möchte: „Sucht mich und lebt“ (5,4).

6. Fazit

Das Buch Amos ist eine Jahrtausende alte schreckliche Gerichtsbotschaft. Aber es ist auch mehr als das: Es ist ein – zeitloser – Aufruf, zu Gott umzukehren. Und es zeigt uns – ebenso zeitlos – den ewigen, unwandelbaren Gott. Und der ist einzigartig! Er ist sowohl der erhabene, unbestechliche Richter als auch der persönliche Retter, dem sehr viel an einer ungetrübten Beziehung zu seinen Kindern liegt. Damit ist und bleibt dieses Buch bis heute aktuell. Lassen wir uns also auch heute von ihm rufen und korrigieren. Suchen wir seine Nähe. Richten wir unser Handeln so ein, dass wir ihm gefallen. Und pflegen wir die persönliche Beziehung zu ihm, damit der Schluss des Buches auch auf uns zutrifft: „Ich pflanze sie … ein, spricht der HERR, dein Gott.“

 

Das Buch Amos – der Versuch einer Gliederung:

1,1-2 EINLEITUNG
1,1 Historisch: Wer? Wo? Wann?
1,2 Inhaltlich: Der HERR brüllt aus Zion
1,3-2,16 GOTTES GERECHTES GERICHT
1,3-2,3 Über die Heiden
2,4-5 Über Juda
2,6-16 Über Israel
3,1-15 GOTTES LOGISCHES GERICHT
3,1-2 Die hohe Berufung Israels
3,3-8 Die Logik des Gerichts
3,9-15 Der Ruf zum Gericht
4-6 DER RUF ZUR UMKEHR
4,1-11 Falsche Einstellungen
4,12-5,15.20-27Gottes Weckrufe
5,16-20; 6,1-14Was die Umkehr hindert
7-9,10 FÜNF VISIONEN
7,1-3 1. Vision: Heuschrecken fressen alles auf
7,4-6 2. Vision: Feuer frisst Wasser und Land
7,7-9 3. Vision: Ein Senkblei
7,10-17 1. Exkurs: Amos und Amazja
8,1-3 4. Vision: Ein Korb mit reifem Obst
8,4-14 2. Exkurs: Zwei Zeichen des Gerichts
9,1 5. Vision: Der Herr am Altar
9,2-10 3. Exkurs: Der richtende Gott
9,11-15GOTTES NEUANFANG
9,11-15aWiederherstellung der Nation
9,15b Wiederherstellung der Beziehung

 

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