Was passiert eigentlich VOR der Evangelisation?

Nach einem Vortrag von Francis Schaeffer in den 1960er-Jahren erhob sich ein Student und sagte: „Dr. Schaeffer, wenn wir Sie richtig verstehen, dann sagen Sie, dass der eigentlichen Evangeliumsverkündigung eine intellektuelle Vorarbeit vorausgehen muss. Wenn das stimmt, dann haben wir hier in Oxford einen großen Fehler gemacht und erreichen viele unserer Mitmenschen nur deshalb nicht, weil wir uns nicht genügend Zeit für diese Vorarbeit  genommen haben.“ Dem konnte Francis Schaeffer nur zustimmen. (*)

Der englische Begriff „pre-evangelism“, der in  der deutschen Ausgabe des Buches von Schaeffer mit „Vorarbeit“ wiedergegeben wurde, müsste eigentlich mit  „Vor-Evangelisation“ übersetzt werden.

Was ist Vor-Evangelisation?

Vor-Evangelisation ist das Bemühen, Einwände und Hindernisse für ein aufrichtiges Hören der christlichen  Botschaft des Evangeliums niederzureißen. Manche Menschen haben Mauern in ihren Köpfen und Herzen, die es  ihnen einfach nicht erlauben, ein offenes Ohr für den Anspruch des christlichen Glaubens zu haben. Wenn wir vor- evangelisieren, teilen wir vielleicht nicht sofort das Evangelium mit jemandem, aber wir leisten die notwendige  Arbeit, um ihnen zu helfen, Hürden zu überwinden, die dem wirklichen Hören des Evangeliums im Wege stehen.

Vor-Evangelisation bedeutet für verschiedene Menschen unterschiedliche Dinge. Manche sehen Vor-Evangelisation als das, was Paulus mit den Philosophen auf dem Areopag unternommen hat. Er begann mit dem, was sie über einen „unbekannten Gott“ wussten, und argumentierte für die Existenz eines persönlichen Gottes, der Gerechtigkeit  fordert (Apg 17,22-34). Diese Art der Vor-Evangelisation versucht, Menschen dort zu begegnen, wo sie sich befinden.

Andere sehen die Vor-Evangelisation als Freundschaftsevangelisation, bei der Gläubige eine freundschaftliche  Beziehung zu einem Nichtchristen entwickeln und durch Taten der Freundlichkeit und authentisches Christsein die  Wahrheit des Evangeliums „gesehen“ werden kann, noch bevor sie mündlich weitergegeben wird.

Wieder andere  sehen die Vor-Evangelisation als eine Verteidigung des Glaubens (Apologetik) gegen fremde Weltanschauungen,  bevor sie versuchen, das Evangelium mit anderen zu teilen.

Vor-Evangelisation will die grundlegenden Kategorien  vermitteln, die Menschen brauchen, um die Ansprüche des Christentums zu verstehen. Sie will auch mögliche  intellektuelle Einwände beseitigen.

Hinweise zur praktischen Umsetzung der Vor-Evangelisation

1. Vor-Evangelisation beinhaltet eine wechselseitige Kommunikation zwischen  Christen und Nichtchristen

Wenn wir kommunizieren wollen, dann müssen wir uns die Zeit und die Mühe nehmen, den Sprachgebrauch  unserer Hörer zu erlernen, damit sie verstehen, was wir zu vermitteln beabsichtigen. Vor-Evangelisation bedeutet  also, zu verstehen, was Nichtchristen sagen. Es bedeutet, ihnen zuzuhören und dann mit ihnen in Begriffen zu  kommunizieren, die sie verstehen können. Es geht – anders ausgedrückt – darum, Gemeinsamkeiten zu finden und  herzustellen.

2. Vor-Evangelisation setzt ein richtiges Verständnis der Bedeutung von Liebe voraus

Jeder Mensch muss als Individuum behandelt werden, nicht als „Fall“ oder „Maschine“ oder nach irgendeiner „Statistik“. Wir müssen daran denken, dass der Mensch, zu dem wir sprechen – wie weit er auch vom christlichen  Glauben entfernt sein mag –, das Ebenbild Gottes ist. Er besitzt einen hohen Wert, und unsere Kommunikation mit  ihm sollte in echter Liebe erfolgen. Liebe ist keine einfache Sache; sie ist nicht nur ein emotionaler Drang, sondern  der Versuch, sich in den anderen hineinzuversetzen und so zu erkennen, wie seine Probleme auf ihn wirken. Liebe bedeutet, ein echtes Anliegen für den Einzelnen zu haben.

3. Vor-Evangelisation bedeutet, einem Nichtchristen zu helfen, die Sinnlosigkeit des Unglaubens zu erkennen

Dies kann geschehen, indem wir ihnen gezielte Fragen stellen, durch die sie zum Nachdenken angeregt werden.  Dadurch werden sie motiviert, sich Gedanken über die Stärken und Schwächen ihrer Überzeugungen zu machen und daraus mögliche Schlüsse zu ziehen.

4. Vor-Evangelisation beinhaltet zu vermitteln, dass es bei den Themen des Glaubens um objektive Fakten der Geschichte geht

… und nicht um subjektive Gefühle oder Meinungen von Einzelpersonen. Wir müssen sicherstellen, dass unser  Gegenüber versteht, dass wir über die wirkliche Wahrheit sprechen und nicht über etwas Vages im religiösen Spektrum, das psychologisch zu funktionieren scheint. Wir müssen sicherstellen, dass er oder sie versteht, dass wir  über echte Schuld vor Gott sprechen, und dass wir ihm oder ihr nicht nur Erleichterung für seine/ihre Schuldgefühle  anbieten. Wir müssen sicherstellen, dass verstanden wird, dass wir über reale Geschichte sprechen  und dass der Tod Jesu nicht nur ein Ideal oder ein Symbol ist, sondern eine Tatsache in Raum und Zeit.

Vor-Evangelisation ist wichtig!

Durch sie vermitteln wir sowohl die Kategorien als auch die Wahrheiten, die jemand braucht, um das biblische Evangelium überhaupt zu verstehen. Dazu gehört auch die Beseitigung von intellektuellen Einwänden, ob wirklichen oder eingebildeten, die Nichtchristen gegen das Evangelium haben können. Außerdem besteht ihre Aufgabe darin, die Weitergabe des Evangeliums in Begriffen vorzubereiten, die auch  Nichtchristen verstehen können! Vor-Evangelisation gehört zu dem von Paulus in 2. Korinther 5 beschriebenen „Dienst der Versöhnung“, der auch ein Überreden (V. 11) und eindringliches Bitten (V. 20) beinhaltet. Wie jeder Dienst bedeutet das Mühe und Aufwand, aber es ist eine Mühe, die sich wirklich lohnt!

 

Fußnote:

(*) Vgl. Schaeffer, Francis: Gott ist keine Illusion, 2. Auflage, Witten 1991, S. 160

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