Was bedeutet Versöhnung?

Schuld und Sühne sind existenzielle Probleme

Zu allen Zeiten fühlten sich die Menschen den Göttern ausgeliefert. Deswegen lebten sie in dauernder Sorge vor ihrem Zorn. Sie erkannten, dass sie häufig schuldig wurden, obwohl sie sich manchmal fragten, was genau ihre Schuld war. Doch jede Not, jedes Unglück und vor allem den Tod empfanden sie als Strafe für ihre Sünden. Den alten Griechen war der Problemkreis von Schuld und Sühne sehr bewusst. Die Dichter nahmen daraus den Stoff für ihre Tragödien.

Um ihre Schuld loszuwerden und die Bestrafung abzuwenden, leisteten viele Menschen des Altertums ihrer Gottheit Ersatz oder sie zahlten im Voraus. Es gab so etwas wie ein kaufmännisches Verhältnis von Soll und Haben, wobei niemand genau wusste, wann das Konto ausgeglichen war. Um sicherzugehen, boten z. B. die Kelten ihren Göttern Menschenopfer an.

Die Sühne hing vom richtigen Vollzug des Opfers ab. Ob damit aber die Götter tatsächlich versöhnt waren, blieb offen.

Sühne galt als Grundsatz auch im Leben Israels

In Israel galt das Prinzip, dass jede Schuld gesühnt werden musste, sowohl gegenüber Gott als auch bei Menschen. Obwohl das „Auge um Auge und Zahn um Zahn“ (2. Mose 21,24) in den vergangenen Jahrhunderten manchmal als grausam empfunden wurde, war dieser Grundsatz aber eine wirksame Sperre gegenüber maßlosem Hass und überzogener Rache. In Israel achtete man auf angemessene Gerechtigkeit, wenn man einen Wert als Ersatz für erlittenen Schaden festsetzte. Es sollte nicht mehr, es durfte aber auch nicht weniger geleistet werden, z. B. genau 30 Silberschekel für einen getöteten Sklaven.

Sühne ist Ersatzleistung

Im Alten Testament hatte die Wortbasis, die Wurzel für „Sühnung“ und „Sühnung erwirken“, zunächst die Grundbedeutung „Asphalt“, dann „mit Asphalt zudecken“, also die Schuld zudecken. Im übertragenen Sinn meint es „löschen, entschädigen, loskaufen“, eben durch eine Gegenleistung.

Als Jakob seinem Bruder Esau entgegenging, wollte er sich wieder mit ihm vertragen. Das war schon deshalb notwendig, weil er fürchtete, sonst den Großteil seines Vermögens an Esau zu verlieren. Die Versöhnung wollte er durch ein teures Geschenk erreichen. Er sagte: „Ich will ihn versöhnen durch das Geschenk, das vor mir hergeht“ (1. Mose 32,21). Wörtlich heißt der Satz: „Ich will sein Gesicht durch das Geschenk bedecken, (sodass er die Beleidigung nicht wahrnimmt).“ „Sich mit jemandem versöhnen“ ist also das Leisten eines Ersatzes für begangenes Unrecht, wodurch die Vergangenheit zugedeckt wird. Das gleiche Prinzip galt auch bei Blutschuld: David wollte die Gibeoniter mit sich versöhnen, die Saul verfolgt hatten und von denen er viele getötet hatte. Er fragte: „Und womit soll ich Sühne tun, damit ihr das Erbteil des HERRN segnet?“ (2. Samuel 21,3). Eigentlich heißt es: Womit soll ich bedecken, …? Es geht um das Bedecken der Blutschuld des Hauses Saul. Die Antwort lautete: Durch die Todesstrafe für sieben Söhne des schuldigen Königshauses. Dadurch, dass David einen gleichwertigen Ersatz für das Leben der ermordeten Gibeoniter bereitstellte, konnte er den aufgebrachten Volksstamm versöhnen.

Eine grundsätzliche Bedeutung für Israel bekam der Ausgleich von Schuld und Sühne im von Gott angeordneten Opferdienst. Der Ausdruck „Sühnung erwirken“ erscheint im Alten Testament bald 50-mal. Erst nachdem ein blutiges Tieropfer gebracht war – nur das Blut hatte sühnende Wirkung (3. Mose 17,11, Hebräer 9,22) –, wurde dem Sünder vergeben (3. Mose 4 u. 5). Erst dann war das Verhältnis zu Gott wieder geklärt und rein. Am großen Versöhnungstag (3. Mose 23,28) hatte der Hohepriester für jedes Jahr neu diesen Grundsatz feierlich zu bestätigen: Ohne Sühne keine Vergebung, keine Versöhnung! Durch Sühne wurde Gott Genugtuung, Satisfaktion, verschafft und gleichzeitig für den Menschen die Befreiung von der Schuld erlangt. Es war die Schuld nicht lediglich verhüllt, sondern sie war weggetan, so weit der Osten ist vom Westen (Psalm 103,12), was auch der Sühnebockritus in 3. Mose 16 symbolisiert.

Allerdings reichte es für die Vergebung nicht, wenn nur der Sühneakt in der vorgeschriebenen Form durchgeführt wurde. Zwar war dann die objektive Seite der Vorschrift erfüllt, aber zur Vergebung gehörte auch die persönliche innere Beteiligung, die Buße, das Bedauern der Schuld und Sünde. Der Opfernde legte seine Hand auf den Kopf des Opfertieres, seine Schuld wurde auf das Tier übertragen. Die eigene Betroffenheit jedoch vermisste Gott bei seinem Volk. Er warf ihm vor, zwar viele Opfer zu bringen, aber keine Buße zu tun: „Wozu soll mir die Menge eurer Schlachtopfer dienen? – spricht der HERR. Ich habe die Brandopfer von Widdern und das Fett der Mastkälber satt, und am Blut von Jungstieren, Lämmern und jungen Böcken habe ich kein Gefallen. Und wenn ihr eure Hände ausbreitet, verhülle ich meine Augen vor euch. Auch wenn ihr noch so viel betet, höre ich nicht – eure Hände sind voll Blut. Wascht euch, reinigt euch! Schafft mir eure bösen Taten aus den Augen, hört auf, Böses zu tun! Lernt Gutes tun, fragt nach dem Recht, weist den Unterdrücker zurecht!“ (Jesaja 1,11.15-17).

Sühne ist Versöhnung

Sühne bedeutet im Deutschen meist Genugtuung oder Ausgleich für ein Unrecht. Das geschieht häufig unter Zwang, z. B. durch ein Gerichtsurteil. Das Verb „versühnen“ wurde erst im 19. Jh. zu „versöhnen“. Der Begriff hat nichts mit „Sohn“ zu tun, als würde es bedeuten „wieder zum Sohn machen“. Die Vorsilbe „ver“ ist nur eine Verstärkung, sodass die beiden Wörter auf eine gemeinsame Grundbedeutung zurückgehen, etwa: stillen, beschwichtigen. In der Juristensprache bedeutet „Sühneversuch“ immer noch dasselbe wie „Versöhnungsversuch“.

Der einmalige Sühneort

Im Neuen Testament wird der Wortstamm für „Sühne‚ sühnen“ (hilas …) nur an ganz wenigen Stellen genannt. Die davon abgeleiteten Wörter finden sich häufiger im griechischen und antiken Opferkult. Sie bedeuten: die Götter durch Opfer gnädig stimmen. Davon zu unterscheiden ist die Einmaligkeit des Sühnegeschehens in Jesus Christus.
Es gilt für uns, für die ganze Welt und für alle Zeit: „Gott hat seinen Sohn gesandt als eine Sühnung für unsere Sünden“ (1. Johannes 4,10) und: „Und er ist die Sühnung für unsere Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die ganze Welt“ (1. Johannes 2,2). Der Tag, an dem der Herr gekreuzigt wurde, ist also der einmalige Große Versöhnungstag. Der Ort, an dem Sühnung geschah, ist nicht mehr der Deckel der Bundeslade (hilasterion), sondern ein für alle Mal Christus selbst (Römer 3,25). Er, der treue Hohepriester vor Gott, kam, um nicht nur die Sünden des Volkes Israel (Hebräer 2,17), sondern aller Schuld zu sühnen.

Versöhnung ist Änderung der Personalverhältnisse

Statt „Sühne“ finden wir im Neuen Testament vielmehr „Versöhnung“. Darin erkennen wir die Verschiebung eines Schwerpunktes. Der liegt nicht mehr auf der Ersatzleistung für Sünde, auf dem Zudecken von Schuld durch Opferriten – denn das einmalige Opfer Jesu Christi ist vollbracht –, sondern auf der Änderung eines Personenverhältnisses: Aus Feindschaft wird Frieden, aus Kampf Gemeinschaft.

Das Heilsgeschehen ist auch Sühne und Versöhnung

Das Heil in Christus betrifft Himmel und Erde, Gott und den Menschen. Insofern ist es universell. Sühne und Versöhnung gehören dazu. Sie sind aber nur zwei Aspekte dieses umfangreichen Geschehens. Sie beziehen sich auf die kultischen und die persönlichen Verhältnisse von Gott zu den Menschen. Daneben sind weitere Zentralbegriffe wie Loskauf, Erlösung und Gerechtigkeit zu beachten.

„Welche Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes!
Wie unerforschlich sind seine Gerichte und unaufspürbar seine Wege!“ (Römer 11,33)

Gott selbst schafft Versöhnung und Gemeinschaft

Die Sünde – sie ist Ungehorsam, Beleidigung Gottes in seiner Ehre – hat die Gemeinschaft mit Gott zerstört. Wer kann das Verhältnis wieder heilen? Der Mensch ist dazu völlig unfähig. Gott selbst gleicht den Schaden aus. Er allein konnte es tun und tat es. „Denn das dem Gesetz Unmögliche (d.h. die Verdammnis abzuwenden), weil es durch das Fleisch kraftlos war (d. h. weil die Menschen nicht dazu in der Lage waren), tat Gott, indem er seinen eigenen Sohn in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde und für die Sünde sandte und die Sünde im Fleisch verurteilte“ (Römer 8,3). Die Strafe zu unserem Frieden lag auf Christus; er hat Frieden gemacht durch das Blut seines Kreuzes. Den genauen Vorgang der Versöhnung durch Sühne zeigt uns Römer 5,10: „Als wir Feinde waren, wurden wir mit Gott versöhnt durch den Tod seines Sohnes.“ Grundsätzlich fasst Paulus die Versöhnungstat Gottes in 2. Korinther 5,18 zusammen: „Alles aber von Gott, der uns mit sich selbst versöhnt hat durch Christus …, nämlich dass Gott in Christus war und die Welt mit sich selbst versöhnte.“

Warum handelte Gott so? Wir kennen sein Motiv: seine Liebe (Johannes 3,16). Weil seine Liebe weder an unser Verdienst noch an unsere Qualitäten gebunden ist (5. Mose 7,6), bleibt jegliche menschliche Leistung oder Vorleistung ausgeschlossen. Jesus Christus vollbrachte durch sein Leiden und Sterben am Kreuz freiwillig die entscheidende Tat, er litt den sühnenden Tod. Das war kein materieller Gegenwert, um die Schuld der Menschen zu bezahlen, sondern er selbst stellte sich als Opfer zur Verfügung. Er leistete Ersatz für diejenigen, die nichts leisten konnten, er trat stellvertretend für sie ein. Das ist Versöhnung.

Nun haben wir Gemeinschaft mit Gott. Sie besteht mit ihm und durch ihn, mit und durch seinen Sohn Jesus Christus und mit den erlösten Menschen (1. Johannes 1,3).

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