Warum wir auf das Medium Buch nicht verzichten wollen

Ich liebe meine digitale Bibliothek. Meine ungefähr 10.000 digitalen Bücher kann ich überallhin mitnehmen, und meine digitale Bibliothek habe ich auch auf Reisen immer bei mir. Ich kann sie elektronisch durchsuchen, meine Notizen und Unterstreichungen zwischen verschiedenen Geräten synchronisieren und schnell ein bestimmtes Buch an einer bestimmten Stelle aufschlagen, Zitate daraus entnehmen oder viele Bücher auf meinem Bildschirm nebeneinander legen. Ich arbeite gerne mit meinen digitalen Büchern und nutze sie täglich. Aber auf meine analoge Bibliothek verzichten will ich trotzdem nicht – erst recht nicht auf meine gedruckte Bibel. Warum nicht, wenn doch digitale Bücher so viele Vorteile haben?

Das digitale Buch als Modell der Zukunft?

Noch vor zehn Jahren gab es Prognosen, die dem E-Book einen rasanten Aufstieg vorhersagten und dem klassischen, gedruckten Buch nur noch einen Platz bei Liebhabern oder Sammlern zuweisen wollten. Von diesen Prognosen ist heute nicht viel übriggeblieben. Im Gegenteil: Der Anteil von E-Book-Lesern ist seit sieben Jahren fast konstant.¹ Das gedruckte Buch hat dagegen weiterhin den überwiegenden Marktanteil, auch bei jungen Leuten. Studenten bevorzugen beim Lernen sogar das gedruckte Buch, weil sie damit besser lernen können.² Warum ist das so?

Verarbeitungstiefe

Digitale Bücher haben ohne Zweifel viele Vorteile, die wir in der heutigen Zeit genießen und nutzen dürfen. Aber in bestimmten Bereichen schneiden sie schlechter ab als ein als gedrucktes Buch. Das liegt daran, wie unser Gehirn funktioniert und lernt. Unser Gehirn speichert Eindrücke umso besser, je höher die Verarbeitungstiefe ist. Verarbeitungstiefe ist die Anzahl der beteiligten Sinne, Assoziationen und Emotionen. Ein optimales Lernen gelingt also dann, wenn möglichst viele Sinne an der Aufnahme von Informationen beteiligt sind. Jeder weiß, dass man einem Lehrer besser folgen kann, wenn man zugleich etwas sieht – und im besten Fall sogar in die Hand nehmen, riechen oder schmecken kann. Das ist bei Büchern genauso.

Geringer oder hoher Lerneffekt?

Die Verarbeitungstiefe ist bei E-Books relativ gering: Man kann den Unterschied zwischen unterschiedlichen Büchern oder unterschiedlichen Seiten weder riechen, noch fühlen oder sehen. Viel größer ist die Verarbeitungstiefe dann, wenn man Seiten mit der Hand blättern, das Buch in der Hand wiegen, fühlen oder sogar riechen kann. Dieser Umgang mit dem gedruckten Buch passiert meist unbewusst, führt aber im Gehirn dazu, dass mehr Eindrücke gespeichert und mehr Verknüpfungen hergestellt werden – kurzum: Man behält das Gelesene besser.

Für die reale Welt geschaffen

Wer kennt das nicht: Man erinnert sich an seinen Taufvers in der Bibel, weil dieser auf der rechten Seite oben in der zweiten Spalte steht und blau unterstrichen ist. Warum geht das mit dem E-Book nicht? Das liegt eben daran, dass sich ein hoher Lerneffekt daran misst, wie intensiv unsere Sinne beteiligt sind. Man hat mit den Händen geblättert, den Vers mit dem Buntstift unterstrichen oder sogar eine emotionale Erinnerung an die eigene Taufe. Außerdem bleibt die Gestaltung der Seite beim gedruckten Buch im Gegensatz zum E-Book immer gleich, sodass der visuelle Reiz viel mehr Informationen enthält. Umso mehr Reize bekommt das Gehirn, wenn man in einem Buch blättert, anhand der gelesenen Seiten ein Gefühl hat, wo man sich im Buch befindet oder sogar (unterbewusst oder bewusst) den Geruch des Buches wahrnimmt. Während digitale Bücher im digitalen Speicher verschwinden, steht ein gedrucktes Buch im Regal, wo man es anschließend immer wieder sieht und finden kann.

Was vordergründig nur etwas für Nostalgiker zu sein scheint, ist in Wirklichkeit genau die Art, wie unser Gehirn funktioniert: Wir sind analoge Geschöpfe in einer analogen Welt. Wir sind von Gott bestens auf diese Welt vorbereitet und für eine Welt gemacht, in der man mit allen Sinnen anfasst, lernt und lebt. Es ist daher kein Wunder, dass das Lesen von gedruckten Büchern auch heute noch einen nachhaltigeren Effekt hat als das Lesen digitaler Bücher.

Vor- und Nachteil zugleich

Es ist schon interessant: Was vordergründig als Nachteil gedruckter Bücher erscheint – nämlich das zeitaufwendige Suchen im Regal, Herausholen, Aufschlagen, Blättern und Durchsuchen mit Augen und Fingern –, ist ironischerweise genau das, was den größeren Lerneffekt im Vergleich zu E-Books ausmacht. Die Zeit, die man beim E-Book spart, nimmt man dem Gehirn beim Herstellen von Verknüpfungen weg – und lernt dementsprechend weniger. Der Vorteil der Zeit- und Platzersparnis beim digitalen Buch wird also beim Lernen gerade zum Nachteil.

Deshalb kommt es weniger darauf an, ob man mehr digitale oder analoge Bücher hat, sondern auf die einfache Frage: Wann nutze ich was? Wenn es um schnelle digitale Informationssuche und Verarbeitung geht, ist das digitale Buch unschlagbar. Wenn es aber um eine intensive Arbeit mit einem Buch geht, bei dem man das Buch und seinen Inhalt kennenlernen, verstehen, dauerhaft behalten und immer wieder nutzen möchte, ist das gedruckte Buch eindeutig im Vorteil.

Und das führt zu einer entscheidenden Frage: Wie gehen wir mit dem Buch um, das wir wie kein anderes kennenlernen, verstehen, dauerhaft behalten und immer wieder nutzen möchten?

Wie lese ich meine Bibel?

Gott hat sich uns in einem Buch offenbart (2Tim 3,16). Wenn ich sein Reden verstehen, kennen und behalten will, reicht auch in der heutigen Zeit kein Medium an das einfache Aufschlagen der gedruckten Bibel heran. Genau das, was man mit der digitalen Bibel gewinnen will – nämlich die Zeit, die man sonst mit Buntstiften über der Bibel sitzt, Bibelstellen auf- und nachschlägt, auf Verse schaut, sie murmelnd liest und über sie nachdenkt – verhindert genau das, was in dem von Gott genial geschaffenen Gehirn die tiefsten Spuren hinterlässt. Hier geschieht, von Gottes Geist gewirkt, auch die nachhaltigste Veränderung am inneren Menschen. Es ist daher kein Wunder, dass eben der Mensch wirklich „glücklich“ ist, „der seine Lust hat am Gesetz des HERRN und über sein Gesetz sinnt (o. murmelnd nachdenkt) Tag und Nacht“ (Ps 1,1).

Vielleicht ist ja ein erster Schritt in diese Richtung, im nächsten Gottesdienst wieder die gedruckte Bibel mitzunehmen und mit den eigenen Händen darin zu blättern.

 

„Wir sind analoge Geschöpfe in einer analogen Welt. Wir sind von Gott bestens auf diese Welt vorbereitet und für eine Welt gemacht, in der man mit allen Sinnen anfasst, lernt und lebt.“
(
Benjamin Lange)

 

Quellenangaben:

¹ Meldung des Digitalverbandes bitkom vom 10.10.2019 und 13.10.2020.
² Lauren M. Singer: Reading Across Mediums: Effects of Reading Digital and Print Texts on Comprehension and Calibration, in: The Journal of Experimental Education 85/2017, S. 155-172.

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