„Theologie der Herrlichkeit“ oder „Theologie des Kreuzes“

Martin Luther und seine Theologica paradoxa

Ein Blick zurück in die Geschichte der Christenheit zeigt, dass das Kreuz auch zu früheren Zeit kontrovers gesehen oder sogar übersehen wurde. Während Paulus sogar von „Feinden des Kreuzes Christi“ (Phil 3,18) schon zu seiner Zeit schrieb, deckte später Martin Luther zumindest Versäumnisse auf, die Botschaft vom Kreuz – bis in die tägliche Nachfolge hinein – ernst zu nehmen und auch danach zu leben (Christsein unter dem Kreuz; vgl. dazu Luthers Sermon vom Leiden und Kreuz). Was heute glücklicherweise wieder zum „Einmaleins“ der christlichen Lehre gehört – aber trotzdem bewahrt und gepflegt werden muss –, musste bei der Reformation, der ultimativen Zeitenwende des Christentums, erst mühsam vom Schutt falscher oder einseitiger kirchlicher Theologie befreit werden. Ron Kubsch zeichnet in dem folgenden Artikel Luthers erhellenden Blick auf das Kreuz nach und gibt Einblicke, wie dieser dessen Bedeutung für den rettenden und befreienden Glauben an Jesus Christus offenlegte.

Die Heidelberger Disputation

Zwischen Herbst 1517 und Sommer 1518 wandte sich Martin Luther von der Ablasslehre der katholischen Kirche ab und erlebte einen ersten reformatorischen Durchbruch. Der noch junge Professor begann zu verstehen, dass der Mensch allein durch den Glauben, der sich auf Christus verlässt, sein Heil empfängt.

Dokumentiert ist diese reformatorische Entdeckung in seiner Predigt über die „Zweifache Gerechtigkeit“ vom 28. März 1518 und vor allem in der sogenannten Heidelberger Disputation vom 25. und 16. April 1518. Die Heidelberger Disputation war ein durch Johann von Staupitz an der Heidelberger Universität einberufenes Generalkonvent. Luther konnte damals durch seine pointierten Redebeiträge etliche Zuhörer von der neuen Sichtweise überzeugen. Spätere Reformatoren wie Martin Bucer (1491–1551) oder Johannes Brenz (1499–1570) lauschten Luthers Ausführungen und ließen sich schließlich für die Anliegen der Gnadentheologie begeistern.

Das Kreuz verändert alles

Die Disputation ist stark mit der sogenannten „Theologie des Kreuzes“ verbunden. Bei Luther tritt der Begriff sonst nur vereinzelt auf. Bei den Erörterungen von 1518 verwendet der junge Reformator die Formulierung allerdings in einer bahnbrechenden Weise. Er stellt die sogenannte „Herrlichkeitstheologie“ (theologia gloriae) der „Kreuzestheologie“ (theologia crucis) gegenüber.

In einem kurzen Vorspann bezeichnet er seine Thesen sogar als „Theologica paradoxa“, also als einen theologischen Widerspruch. Das hat eine tiefere Bedeutung. Denn Luther treibt hier – anknüpfend an den Apostel Paulus und den Kirchenvater Augustinus – seine Entdeckung auf die Spitze. Er will prägnant verdeutlichen, dass beim Verstehen des Evangeliums die natürliche Vernunft überfordert ist (vgl. 1Kor 1–3).

Die Thesen 19 bis 27 machen meines Erachtens das Herzstück der Debatte aus. Luther zeigt anhand der Unterscheidung und Verhältnisbestimmung von Herrlichkeitstheologie und Kreuzestheologie, was das Besondere seiner Einsicht ist. Dabei wird unübersehbar deutlich, dass die Theologie nur dann bei ihrer eigentlichen Sache bleibt, wenn sie vom Kreuz spricht. Der Theologe der Herrlichkeit findet Gott durch die Schöpfung. Der Aufbau der „Summe der Theologie” des großen Thomas von Aquin (1225–1274) kann beispielsweise auf die Formel „Von Gott durch die Welt zu Gott in Christus – dem Gekreuzigten“ gebracht werden. Luther wendet sich nachdrücklich gegen eine Theologie, die unter dem Eindruck der griechischen Philosophie (bes. Aristoteles) vorgibt, vernünftige Wege zu Gott gefunden zu haben. Luther verurteilte sie in seiner 19. These mit den Worten, dass der nicht wert sei, „ein Theologe zu heißen, der Gottes ‚unsichtbares Wesen durch das Geschaffene erkennt und erblickt‘ (Röm 1,20)“. Die Theologie der Herrlichkeit verzwecke Gott und raube ihm die Ehre. Sie „bläht auf, macht blind und verstockt“, heißt es in der 22. These. „Das (dem Menschen) zugewandte und sichtbare Wesen Gottes ist das Gegenteil des Unsichtbaren, nämlich: seine Menschheit, Schwachheit, Torheit“ (20. These). Gott will im Leiden erkannt sein. Und so formuliert Luther in der 20. These: „So genügt oder nützt es keinem schon, Gott in seiner Herrlichkeit und Majestät zu erkennen, wenn er ihn nicht zugleich in der Niedrigkeit und Schande des Kreuzes erkennt … Also liegt in Christus dem Gekreuzigten die wahre Theologie und Erkenntnis Gottes. Und [in] Johannes 14,6 heißt es: ‚Niemand kommt zum Vater, denn durch mich …‘“

In letzter Analyse setzt nach Luther die Theologie der Herrlichkeit das Vertrauen auf die Werke und führt deshalb zur Verherrlichung des Menschen. Sie beschönigt das desolate Sündersein, das sogar die Erkenntnis Gottes aus der Schöpfung missbraucht. „Der Theologe der Herrlichkeit“, so schreibt der große Luthergelehrte Martin Brecht, „kennt ja nicht das Prinzip des unter dem Kreuz verborgenen Handelns Gottes. Er setzt auf Werke statt auf Leiden, Herrlichkeit statt Kreuz, Kraft statt Schwachheit, Weisheit statt Torheit“ (Martin Luther, Bd. 1, 1981, S. 226). Allein die Kreuzestheologie lässt Gott den ihm geschuldeten Ruhm zukommen, da sie alles von Christus erwartet. Wir finden demnach allein durch Christus zu Gott (und in einem gewissen Sinn auch zur Welt). Es gibt keine wahre Gottes- und Welterkenntnis ohne Kreuz.

Worauf wir achten müssen

Die jüngere Lutherforschung hat meines Erachtens überzeugend nachweisen können, dass die Kreuzestheologie sich noch nicht völlig von der mittelalterlichen Mönchs- und Bußtheologie freigemacht hat. Sie ist charakteristisch für den jungen Luther. Selbstanklage und Selbstverurteilung, klassische Elemente aus der Mönchstheologie, haben hier noch ihren Platz (vgl. dazu: O. Bayer, Promissio, 1971, und B. Kaiser, Luther und die Auslegung des Römerbriefes, 1995). Wir sollten die Kreuzestheologie fernerhin nicht so verstehen, als sei die vernünftige Verteidigung des Glaubens (auch Apologetik genannt) nutzlos. Luther sprach davon, dass Erkenntnis Gottes in seiner sichtbaren Herrlichkeit nicht genügt.

Heute fehlt uns nicht nur die Erkenntnis des Kreuzes, sondern auch das Wissen um die Majestät Gottes. Insofern brauchen wir beides: die vernünftige Rechenschaftslegung des christlichen Glaubens und die Verkündigung der Botschaft, dass allein der am Kreuz gestorbene und nach drei Tagen auferstandene Jesus Christus uns aus unserer Not und Verlorenheit retten kann.

Genau hier liegt die Aktualität der Kreuzestheologie: Luther sagt uns, dass es bei uns keine Rettung gibt. Unser Heil kommt allein durch Christus zu uns. Wenn man so will, ist das Evangelium tatsächlich ein Paradoxon. Denn es sagt den Gerechten, dass sie böse sind. Und jenen, die sich aufgrund ihrer Ungerechtigkeit für verloren halten und allein bei Jesus Christus Zuflucht suchen, spricht das Wort vom Kreuz die rettende Gerechtigkeit zu.

Kommentare sind geschlossen.