Klassiker der Gleichnisauslegung: Der barmherzige Samariter

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter gehört zu den bekanntesten Gleichnissen Jesu. Doch wird es oft nur oberflächlich als Vorbild für tätige Nächstenliebe oder vielleicht noch als Bild für das Werk Jesu ausgelegt. Beides ist enthalten, doch erst im Zusammenhang gelesen entfaltet es seine vorrangige Botschaft, die auf die Tiefen unseres Herzens abzielt.

Das Gleichnis ist eingebettet in einen Dialog zwischen Jesus und einem Gesetzesgelehrten (Lk 10,25-37). Vordergründig will dieser wissen, wie man ewiges Leben bekommt. Doch eigentlich stellt er Jesus eine Falle (V. 25) und hofft auf eine Antwort, die dem Gesetz widerspricht (vgl. Joh 8,5). Jesus fragt stattdessen zurück, was im Gesetz dazu steht. Die Antwort des Gelehrten: Man soll Gott und seinen Nächsten lieben (5Mo 6,5; 3Mo 19,18). Jesus bestätigt das.

Hier könnte das Gespräch zu Ende sein. Doch der Gelehrte stellt eine zweite Frage: Wer ist denn mein Nächster? Daraufhin erzählt Jesus das Gleichnis und schließt mit einer Frage, die der Gelehrte richtig beantwortet. Das Gleichnis ist also Jesu Antwort auf die Frage, wer mein Nächster ist.

Diese Frage stellt der Gelehrte, „indem er sich selbst rechtfertigen wollte“ (V. 29). Er war Experte in der mündlich überlieferten Auslegung und Anwendung des Gesetzes. Diese „Überlieferung der Ältesten“ (Mt 15,1-2; Mk 7,3) regelte genau, wie bestimmte Gebote auszuführen waren. Beide Fragen des Gelehrten (V. 25: „Was muss ich getan haben …?“) zeigen, dass er gerne eine praktische To-Do-Liste zum Abhaken hätte. Doch Jesus liefert ihm keine Liste von Personen, die als „Nächster“ gelten. Stattdessen erzählt er ein Gleichnis, das ihn mit seiner Herzenshärte konfrontiert:

Ein Mann wird ausgeraubt und halbtot geprügelt. Der Reihe nach kommen ein Priester, ein Levit und ein Samariter vorbei. Bei allen dreien kehrt die Formulierung „er kam … und … er sah“ wieder. Über Priester und Levit heißt es weiter: „… und er ging an der entgegengesetzten Seite vorüber“. Vom Samariter heißt es hingegen: „… und er wurde innerlich bewegt.“ Diese Formulierung hat im Gleichnis entscheidende Bedeutung.

Priester und Leviten waren für den Tempeldienst zuständig, der nur von kultisch „Reinen“ verrichtet werden durfte. Es galten strenge Reinheitsvorschriften wie das Verbot, eine Leiche zu berühren (3Mo 21,1). Um diese Vorschriften einzuhalten (der Halbtote sah einer Leiche sicher ähnlich), missachteten beide das viel wichtigere Gebot der Barmherzigkeit (vgl. Mt 9,13; 12,7; Hos 6,6).

Ganz anders der Samariter: Er ließ sich „innerlich bewegen“. Das hier verwendete griechische Wort wird im Neuen Testament nur für Jesus bzw. Gott gebraucht. Jesus ist bewegt über die Menge, die wie Schafe ohne Hirten ist (Mt 9,36), zwei Blinde (Mt 20,34), einen Aussätzigen (Mk 1,41) und über eine Witwe, die ihren einzigen Sohn begräbt (Lk 7,13). Der Herr im Gleichnis ist bewegt über den hochverschuldeten und zahlungsunfähigen Knecht (Mt 18,27) und der Vater über den heimkehrenden verlorenen Sohn (Lk 15,20). Jedes Mal führt das Gefühl herzlichen Erbarmens auch zu einer Aktion, z. B. heilt Jesus Kranke, gibt den Menschen Essen, erweckt zum Leben usw. Ebenso wird auch in unserem Gleichnis sehr detailliert beschrieben, wie der Samariter auf die Bewegung seines Herzens reagiert und sich fürsorglich um den Verletzten kümmert (V. 34-35).

Jesu Frage am Schluss des Gleichnisses lautet (V. 36): „Wer von diesen dreien ist der Nächste dessen gewesen, der unter die Räuber gefallen war?“ Eigentlich wollte der Gelehrte doch wissen, wer ihm der Nächste ist! Jetzt wird er herausgefordert, selbst anderen Nächster zu werden (V. 37). Damit macht Jesus ihm deutlich: Es geht Gott nicht um Regeln und Listen zum Abhaken. Es geht nicht darum, wem du zu tätiger Liebe verpflichtet bist, sondern um die Beschaffenheit deines Herzens – ob es fähig ist, tiefes Erbarmen zu empfinden und darauf mit tätiger Liebe zu reagieren. So wird der Nächste definiert: vom Subjekt her, nicht vom Objekt.

Wie der Gelehrte, so müssen auch wir bekennen, wie hart unser Herz oft ist und wie wir uns deshalb oft damit begnügen, oberflächliche Regeln einzuhalten und Listen abzuhaken. Ja, wie wir damit sogar über den eigentlichen Zustand unseres Herzens hinwegtäuschen.

Stattdessen dürfen wir umkehren zu dem, der allein unser Herz verändern kann, indem er es seinem eigenen gleichgestaltet. Dann wird sich unser Glaube nicht auf das Befolgen eines Regelwerks beschränken, sondern sich darin äußern, dass wir uns von der Not um uns herum bewegen lassen und ihr mit tätiger Liebe begegnen.

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