Klar muss sein: Berufen sind wir alle!

Jüngerschaft zeigt sich im Alltag, bei Gesprächen am Küchentisch und überall

Das Thema „Allgemeines Priestertum“ ist heute vielen Christen fremd. Soll denn das „Priestertum“ aus dem Alten Testament für uns heute noch gelten? Christen mit mehr Bibelwissen kennen Texte aus dem Neuen Testament, welche die Gläubigen zum priesterlichen Dienst auffordern, verweisen aber meist schnell auf den Pfarrer oder Ältestenkreis, auf das Leitungsteam. Denn für viele ist klar: Wir geben von unserer Freizeit nichts ab für die Gemeinde! Was aber meint die Bibel mit diesem Begriff, und was wünscht sich Gott von uns? Hier ein Plädoyer.

Gemeinde ist eine Gemeinschaftsaufgabe

Priesterlicher Dienst ist nie eine „One-Man-Show“ gewesen. Im Alten Testament stand der Priester immer als Mittler zwischen Gott und den Menschen, zwischen dem Allerheiligsten als Wohnort Gottes und dem weltlichen Leben des Volkes Israel mit all seiner Sündhaftigkeit. Er hatte Beziehungen zu beiden Lebenswelten. Wenn er eine Beziehung verkümmern ließ, dauerte es oft nicht lange, bis auch die andere krank wurde. So ist es auch heute. Jeder geistlich gesunde Christ ist in beidem unterwegs: Er lebt in der Gemeinde und steht zugleich „mit dem anderen Bein“ noch mitten in der Welt, hat Gespräche mit Nachbarn und Kollegen, lebt sein Christsein in Familie und Beruf, wirkt in zahlreiche Lebensbereiche hinein. Die Vielfalt dieser Erfahrungen tragen Christen zurück in die Gemeinde, in der sie mit anderen verbunden sind. Manche sind „Eingeborene“ ihrer Gemeinde – schon die Eltern und Großeltern waren dort. Andere sind erst als Jugendliche und Erwachsene zum Glauben gekommen oder haben bei der Studienplatz- bzw. Berufswahl ihre Gemeinde gesucht und gefunden. Fakt ist: Die Gemeinde ist – wie ihr Name schon sagt – ein „Gemeinwesen“. Man dient hier miteinander Gott. Das Priestertum ist „allen gemein“-sam aufgetragen. Dafür gibt es gute Gründe.

Einer allein kann es nicht schaffen

Wenn ich für „Hilfe für Brüder International“ auf Reisen bin, erlebe ich es immer wieder: Wo Christen als Gemeinschaften zusammenarbeiten, breitet sich Gottes Wort aus, da wächst die Kirche Jesu. Egal, ob das bei der Bibelverteilung und Traktatmission in Nepal ist oder bei der Armenspeisung in Malaysia, ob das die Vielfalt der Chöre in einem afrikanischen Buschdorf ist oder das Vortragen von Bibelversen in einem Gottesdienst bei den Suri-Kriegern, die bis vor kurzem noch Analphabeten waren: Man ergänzt sich, man hilft sich, man dient gemeinsam Gott und erlebt dabei den Segen dieser „Arbeitsteilung“. Oft auch eine „Belohnungsteilung“. Die Gemeinde bekommt – im doppelten Sinn – viele Gesichter, Stimmen und Hände. Und sie spiegelt so die Vielfältigkeit eines allmächtigen Gottes wider. Der eine verteilt Bibeln im Überlandbus bis zur letzten Reihe, hat den Mut jeden direkt zu fragen, ob er schon von Jesus weiß. Eine andere besucht mit ihrer Näharbeit eine Nachbarin und schiebt ihr in der Stille der Küche eine christliche Schrift zu – wohl wissend, dass diese Frau von ihrem Mann geschlagen wird, wenn sie über irgendetwas anderes als den Hindu-Glauben spricht. Unser Gott hat seine Wege.

Ein erfolgreicher Arzt in Malaysia schließt am Samstag die Praxis, um mit seiner Gemeinde den Obdachlosen auf den Straßen zu dienen. Ein bekannter Rechtsanwalt hilft mit, für diese Unglücklichen eine Unterkunft und einen Job als Wächter über die Regenzeit zu finden, weil ihm viele Unternehmer vertrauen. Die Jugendlichen machen Sandwiches für die Armen, die Älteren veranstalten ein Ehepaar-Dinner in einem 3-Sterne-Hotel mit einem bekannten Künstler, der mitten in seinen Elvis-Coversongs ein glockenklares christliches Zeugnis und Gott die Ehre gibt: „… the real KING is alive! Der wahre König lebt! Wollt ihr, dass eure Ehen zu einem Königreich werden?“

Ein Pastor in einer dieser Gemeinden könnte diese Vielfalt allein garnicht schaffen. Er hätte die Beziehungen nicht, auch nicht die Zeit, nicht die unterschiedlichen „Sprachen der Liebe Gottes“ zur Verfügung, die bei einem Obdachlosen eben doch oft anders sind als bei einem Wirtschaftsboss. Doch unser Gott will alle. Bei dem in Deutschland sträflich vernachlässigtem Thema „Jüngerschaft“ müssen wir offen konstatieren: In der modernen, multioptionalen Gesellschaft, wo sich jeder das für ihn passende Angebot heraussuchen kann, braucht es die Vielfalt der Gemeinde. Jüngerschaft entsteht nicht unter der Kanzel, sondern an den Küchentischen und in den Garagen. Glaubensgespräche finden in den Fußballstadien statt, an der Bude auf dem Weihnachtsmarkt – wenn wir „allgemeines Priestertum“ richtig verstehen.

Segnung und Schutz der Vielfalt

Dass viele Gemeinden und ihre Leiter heute mit dieser Vielfalt völlig überfordert sind, erlebe ich immer wieder bei Gemeindebesuchen. Auf „neutralem Boden“ dauert es oft nicht lange, bis man das Herz ausgeschüttet bekommt. Mal sind es Gemeindeglieder, die unzufrieden sind mit ihrem Leiter, sich von ihm unendlich viel Zeit, eine fast artistische Begabungsvielfalt und eine Selbstaufgabe bis zum körperlichen Zusammenbruch wünschen, wenn man so zuhört. Daneben Gemeindeleiter, die müde geworden sind und Angst haben vor den Erwartungen, die man an sie stellt. Sie rennen wie Tennisspieler allein auf dem Platz, und oben auf den Tribünen sitzen die Zuschauer und „meckern“, weil sie natürlich vieles viel besser machen würden. Aber sie schauen nur zu.

Mit „allgemeinem Priestertum“ hat dies nichts zu tun. Wie soll denn auch ein einzelner allen Generationen, Sprach- und Kommunikationsformen unserer Zeit, allen Mediengewohnheiten und Musikstilen gerecht werden, die in der Gemeinde gewünscht werden. Muss es nicht vielmehr so sein, dass auch hier bei uns sich jeder Christ mit seiner Begabung einbringt, um gemeinsam etwas entstehen zu lassen, was die wunderbare Vielfalt Gottes ausdrückt? – Schon vor 500 Jahren, kurz nach der Reformation, stand diese Frage im Raum: „Was ist die Aufgabe des einzelnen Christen?“ Schaut man bei Martin Luther nach, findet man in seiner Schrift „Dass eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht habe, alle Lehre zu beurteilen“ (1523) eine klare Ansage: „Denn das kann niemand leugnen, dass ein jeglicher Christ Gottes Wort hat und von Gott zum Priester gelehrt und gesalbt ist, wie Christus spricht, Johannes 6,45: ‚Sie werden alle von Gott gelehrt sein‘, und Psalm 45,8: ‚Gott hat dich gesalbt mit Freudenöl vor allen deinen Mitgenossen‘. Diese Mitgenossen sind die Christen, Christi Brüder, die mit ihm zu Priestern geweiht sind, wie auch Petrus sagt in 1. Petrus 2,9: ‚Ihr seid das königliche Priestertum, dass ihr verkündigen sollt die Tugenden dessen, der euch berufen hat zu seinem wunderbaren Licht‘. Ist’s aber so, dass sie Gottes Wort haben und von ihm gesalbt sind, so sind sie auch schuldig, dasselbe zu bekennen, zu lehren und auszubreiten.“

Lasst uns neu darüber nachdenken, ob wir unseren Platz wirklich schon eingenommen haben, den uns die Bibel zuschreibt. Man kann in unseren Tagen mit rasantem Gemeindeschwund landauf-landab über den permanent zurückgehenden Zahlen von Gottesdienstbesuchern und Gemeindemitgliedern traurig werden – oder zynisch. Man kann Schuldzuweisungen machen und „auf die Kirchenleitung“ schimpfen. Oder man kann selbst als berufener, von Gott gesalbter Priester seinen Platz einnehmen. Sieben Tage die Woche. Genau da, wo Gott dich hinstellt im Alltag und in der Gemeinde. Du darfst mit den von ihm geschenkten Gaben dich einbringen und Werke des Glaubens tun, die Gott gefallen. Werke, die er zuvor bereitet hat (Eph 2,10). Überall da, wo Gott dich hinführt.

 

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