Jesus im Verhör – Spielball der Mächte oder souveräner Herr?

Das Johannesevangelium wurde nach den anderen drei Evangelien geschrieben und setzt bewusst ergänzende Schwerpunkte. Johannes setzt bei seinen Lesern das Wissen um die Verhaftung Jesu und die anschließenden  Verhöre voraus. Er will nicht einfach Bekanntes wiederholen, sondern einen zusätzlichen Blickwinkel eröffnen. Einer dieser Schwerpunkt ist die Souveränität Jesu.

Souverän in der Selbstauslieferung (Joh 18,1-11)

Die Verhaftung im Johannesevangelium wird besser mit dem Wort „Selbstauslieferung“ beschrieben. Jesus weiß  bereits im Voraus alles, was über ihn kommen wird (18,3). Er wird nicht von den Ereignissen überrollt, sondern hat sogar die Initiative. Wir lesen von keinem Kuss des Judas und keinem Versuch der Soldaten, Jesus zu ergreifen. Es ist Jesus, der im Garten das Gespräch eröffnet (18,4). Als er sich als der göttliche ICH BIN zu erkennen gibt, fallen die Soldaten vor der Wucht dieser Herrlichkeit und Macht zu Boden (18,6). Diese Szene ist aus anderen Stellen der Bibel bekannt: Vor der göttlichen Herrlichkeit drohen Menschen zu vergehen und bleiben so lange am Boden, bis Gott sie wieder aufrichtet (vgl. Dan 10,8-10; Offb 1,17). An dieser Stelle wäre die Verhaftung eigentlich zu Ende gewesen: Alle Soldaten sind machtlos am Boden und können nicht wieder aufstehen. Doch wieder ist es Jesus, der sie erneut anspricht, aus ihrer Schreckstarre holt und so die Verhaftung überhaupt erst ermöglicht (18,7). Hier wird ganz deutlich: Niemand hat Macht über Jesus. Jesus kann nicht gezwungen, ja, noch nicht einmal verhaftet werden. Er muss sich selbst bewusst hingeben und es schwachen Menschen überhaupt erst ermöglichen, ihn festzunehmen. In einem Ausspruch, den wiederum nur Johannes überliefert, sagt Jesus: „Wenn ihr mich sucht, so lasst diese gehen!“ (18,8). Was hier im Garten geschieht, ist eine willige, souveräne, wissende und von Jesus selbst initiierte Selbstauslieferung und Selbsthingabe. Er ist nicht Spielball der Ereignisse, sondern gibt sich bewusst und willig für die Seinen.

Souverän in der Befragung (Joh 18,19-24)

Nur Johannes berichtet von einem anschließenden inoffiziellen Vorverhör vor Hannas, dem Schwiegervater des Hohenpriesters (18,13). Dieses Verhör dient wohl dazu, Beweise gegen Jesus zu sammeln und sie anschließend dem Synedrium und Pilatus zu präsentieren. Doch das Verhör läuft anders als geplant. Hannas stochert mit sehr allgemeinen Fragen „über seine Jünger und seine Lehre“ (18,19) förmlich im Nebel. Er wirkt plan- und ziellos. Tatsächlich erfahren wir gar nicht, welche Fragen Hannas Jesus denn konkret stellt. Die einzige Frage, die wir aus diesem Verhör kennen, stammt nicht von Hannas, sondern aus dem Mund Jesu: „Was fragst du mich?“ (18,21). Das ist Ironie: Jesus befragt den Befrager und fordert Rechenschaft von dem, der von ihm Rechenschaft fordern möchte. Und so geht es weiter: Jesus kritisiert den Knecht des Hohenpriesters dafür, ihn geschlagen zu haben (18,23). Das einzige Vergehen, das in diesem Verhör verhandelt wird, ist ein Vergehen der Hohenpriester und ihrer Knechte. Das einzige Zeugnis, das wir hören, ist ein Zeugnis Jesu gegen seine Ankläger. Und obwohl Jesus sie anschließend direkt dazu auffordert, Zeugnis gegen ihn abzulegen, können sie keine stichhaltige Anklage nennen. Resigniert senden sie Jesus weiter zu Pilatus (18,24). Von einem juristischen Standpunkt aus hätte ein solches Verhör Jesus nicht nur freisprechen, sondern sogar seine Ankläger schuldig sprechen müssen. Wieder ist deutlich: Inmitten der Anschuldigungen und Verhöre ist Jesus der unschuldige, souveräne Herr, der sich freiwillig hingibt. Der Unschuldige lässt sich von einer schuldigen Welt verurteilen.

Souverän in der Verurteilung (Joh 18,28–19,16)

Anschließend wird Jesus von Pilatus verhört. Doch auch Pilatus geht es nicht besser als dem Hohenpriester. Er hat in diesem Verhör keine klare Position. Das gilt sogar wortwörtlich: Wie ein Pingpongball pendelt er zwischen den Juden (vor dem Prätorium) und Jesus (im Prätorium) hin und her (insgesamt dreimal). Obwohl er als Richter die Aufgabe hat, die Wahrheit herauszufinden, interessiert ihn das wenig. Resigniert fragt er: „Was ist Wahrheit?“ (18,38). Der Einzige, der in diesem Verhör für die Wahrheit einsteht und Zeugnis gibt, ist Jesus (18,37). Und während Pilatus meint, die Macht über Leben und Tod zu haben (19,10), ist es wiederum Jesus, der die wahre Macht hat. Er ist König eines Reiches, das nicht von dieser (sondern einer höheren) Welt ist (18,36). Pilatus dagegen muss von Gott erst Vollmacht gegeben werden, um Jesus zu verurteilen (19,11).

Der Schluss des Verhörs zeigt eindrücklich, dass Pilatus die Macht, die er zu haben meint, gerade nicht hat. Obwohl er von der Unschuld Jesu überzeugt ist (18,38; 19,4.6.12.15), schafft er es dennoch nicht, ihn loszugeben. Er muss sich dem Druck der Menge beugen. Sieht so ein vollmächtiger Richter aus? Man könnte fragen, wer in diesem Verhör der wirkliche Richter ist. Während Pilatus meint, der Richter zu sein, hat Jesus die wirkliche Vollmacht. Er ist der wahre Richter, doch ein Richter, der sich freiwillig verurteilen lässt. Schon wieder ist es Jesus, der souveräne Herr, der sich schuldlos verurteilen lässt von solchen, die nicht einmal dazu die Macht haben.

Alle Fäden in der Hand

Das alles zeigt sehr deutlich: Keine Macht dieser Welt hätte Jesus verhaften, beschuldigen und verurteilen können. Und dennoch geschieht es. Weshalb? Weil Jesus, der souveräne Herr, es so will. Er gibt sich freiwillig. Er ist kein willenloses und machtloses Opfer der Dinge, sondern hat sogar mitten in der Gefangennahme, den Verhören und einer von schuldigen Menschen vorgenommenen Verurteilung die Fäden völlig in der Hand. Und gerade das macht die Erlösung, die er erwirkt hat, umso größer, herrlicher und erstaunlicher. Er will es, und er tut es. Für uns.

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