Ist die Kenntnis der Originalsprachen der Bibel eine Voraussetzung, um die Bibel richtig zu verstehen und auszulegen?

Ein Plädoyer für die Verwendung auf Originalsprachen bezogener Werke bei der Auslegung von Bibeltexten

Das Problem ist komplexer, als es zunächst erscheinen mag. Denn hier geht es nicht nur um eine Fremdsprache, sondern um Lebenswelten und deren sprachliche Ausprägung, die viele Jahrhunderte zurückliegen. Das auch nur annähernd zu erforschen, dazu bedarf es eines lebenslangen Studiums und dies ist auch dann noch nicht abgeschlossen. Da reichen Vokabel- und Grammatikkenntnis kaum aus, um kompetent genug mit der Materie umgehen zu können. Trotzdem sind sie ein unverzichtbarer Aspekt des Umgangs mit einer Fremdsprache. Nur auf diesem Weg ist tatsächlich eine einigermaßen verantwortbare Bibelübersetzung überhaupt erst zustande zu bringen.

Doch was könnte einen Laien, also einen Sprachunkundigen, dazu berechtigen, jenseits schon vorhandener und von Gelehrten verantworteten Bibelübersetzungen einen eigenen Zugang zum originalen Text zu beanspruchen? Wäre das nicht eine ungeheure Anmaßung?

Mithilfe der für ihn zugänglichen Werkzeuge ist heute ansatzweise und im Fortschritt auch dauerhaft durchaus ein Vordringen in tiefere Schichten möglich, aber ebenso ist auch die Gefahr hoch, dass er dabei völlig willkürliche und vordergründige Entscheidungen trifft, denn es fehlt ihm ja an Erfahrung und Kenntnissen, die seine Urteilskraft schärfen könnten. Manchmal ist eine solche Absicht sogar damit verbunden, ein vorgefasstes Verständnis zu untermauern oder in der zeitgeistlichen Auseinandersetzung mit gegenläufigen Trends eine bestimmte Position zu stärken bzw. eine andere zu entkräften. Das sind keine guten Voraussetzungen, um zur wirklichen Bedeutung einer biblischen Aussage oder eines Wortes vorzudringen.

Auch sollte man Folgendes bedenken: Wenn der Eindruck entsteht, nur über das Gelehrtsein in Sprachen und Altertum könne kompetent die Bibel ausgelegt werden, so darf man nicht vergessen, dass die ursprünglich Beteiligten an der biblischen Überlieferung meistens keine Gelehrten waren und ihre Adressaten schon gar nicht.

Die Bibel hat das Potenzial, direkt zu Ihren Lesern zu reden, und während das geschieht, kommt es zu einem immer umfassenderen Verstehen ihrer Botschaft.

Das ist bereits möglich ausgehend von guten Übersetzungen, die ja wie oben beschrieben auf einem sehr gründlichen Analyse- und Verstehensprozess beruhen. Somit besteht mit einer guten Bibelübersetzung wie beispielsweise der Elberfelder schon eine außerordentlich gute Grundlage für ein richtiges und tiefgehendes Verstehen der Bibel.

Hinzu kommt noch eine weitere, dem Gelehrten nicht unbedingt mehr oder manchmal sogar weniger zur Verfügung stehende Dimension, nämlich die der Erleuchtung durch den Geist Gottes, die nicht automatisch verfügbar oder abrufbar ist, sondern nur demütig in Abhängigkeit von Gott empfangen werden kann.

Sprachkenntnis garantiert also nicht automatisch besseres Verstehen der Bibel, schon eher tut dies ein  kontinuierliches geistliches Wachstum, bei dem man einen persönlichen Umgang mit der Bibel pflegt, jedoch nicht mit dem Anspruch, alles so schnell wie möglich umfassend zu verstehen, sondern nach dem Grundsatz von 1. Korinther 13: „Jetzt erkenne ich stückweise …“ (V. 12).

Was trägt nun ein Studium der originalsprachlichen Wörter zum Verständnis und zur Auslegung des Bibeltextes bei und wie geht man dabei vor?

Jeder Text enthält Schlüsselwörter, die die Aussage eines Satzes oder Verses tragen. Sie bieten Anhaltspunkte, sich die Bedeutung eines Textes und seiner Aussage tiefer zu erschließen.

Beispiel: „Die Liebe des Christus drängt uns“ (2. Korinther 5,11). Man kann hier die verschiedenen Satzelemente näher untersuchen, z. B. Subjekt, Prädikat,  Objekt. Über die Liebe findet man vieles, und Christus ist sogar die zentrale Person der ganzen Schrift. Die weiteren Wörter sind untergeordneten Kategorien zuzuordnen wie Adjektive, Personalpronomen oder Fürwörter. Bleibt noch das Verb „drängen“, das weniger häufig vorkommt, aber doch der Klärung bedarf: Wie kommt es dazu, dass uns die Liebe des Christus drängt? In welchem Verhältnis steht das z. B. zu der Aufforderung in 1. Korinther 14,1, nach der Liebe zu eifern, zu streben? Und wenn wir Römer 5,5 hinzunehmen, erfahren wir, dass die Liebe Gottes, also die agape, ausgegossen ist in unsere Herzen durch den Heiligen Geist.

Das Wort „drängen“ (synecho) kommt an zwölf Stellen im Neuen Testament vor, z. B. in Philipper 1,23, wo Paulus von dem Verlangen „bedrängt“ wird, bei Christus zu sein, aber auch, um der Betreuung der Gläubigen willen, im Fleisch, d. h. hier auf der Erde, zu bleiben. Oder in Lukas 12,50, wo der Herr „beengt“ oder „gedrängt“ ist, eine Taufe zu vollbringen (d. h. nach Jerusalem zu gehen und dort sein Leben für uns zu geben). Oder in Apostelgeschichte 18,5, wo Paulus innerlich „gedrängt“ wurde, das Wort Gottes zu verkünden und den Juden zu bezeugen, dass Jesus der Christus ist.

Auch wenn die Bedeutung eines Wortes viele Faktoren miteinbezieht (direkter Kontext, zugeordnete Präpositionen, Singular/Plural Modus usw.), die man bezüglich der biblischen Originalsprachen miteinbeziehen muss, ist ein  Wortstudium immer ein guter erster Schritt, der bei der Annäherung an ein biblisches Thema hilft und den Blick für manches weitet.

Ohne das jetzt weiter zu vertiefen, sieht man an dem oben erwähnten Beispiel leicht, dass das Verständnis einer Schriftstelle durch die Hinzunahme von Schriftstellen, in denen das gleiche Wort verwendet wird, erweitert wird. Es können Aspekte in den Blick kommen, die unseren Herrn selbst betreffen, unser Verhältnis zu ihm oder unseren Dienst, den wir für ihn vollbringen. Die Liebe Gottes jedenfalls scheint eine so gewaltig starke innere Antriebskraft zu sein, die sich in einem hingegebenen Gläubigen regt, dass sie ihn zu Handlungen antreibt („drängt“), an denen sonst kaum ein Mensch Interesse zeigen würde.

Den Gläubigen in Ephesus wirft der Herr vor, dass sie ihre erste Liebe verlassen hatten (Offenbarung 2,4). Um sie wieder anzufachen, sollten sie zu ihm umkehren und die ersten Werke tun. Der Herr möchte, dass unsere Herzen ganz für ihn schlagen, und es gibt Mittel und Wege, das zu bewerkstelligen und das Feuer der ersten Liebe wieder zu entfachen. Das betont unsere Verantwortung und erklärt, warum Paulus die Korinther in seinem ersten Brief an sie dazu aufforderte, nach der Liebe zu streben, zu eifern, und zwar mehr als nach geistlichen Gaben!

Lassen wir uns immer wieder vom Geist Gottes „drängen“, das Notwendige im Reich Gottes zu tun zur Erbauung derer, mit denen wir gemeinsam im Glauben unterwegs sind?

Halten wir also Folgendes fest: Ein Wortstudium, das bis auf die originalen Wörter der Schrift zurückgeht, gewährleistet also, dass man exakt die Stellen in der Schrift findet, die durch den gleichen Begriff evtl. in Beziehung miteinander stehen. Damit ist nicht automatisch die untersuchte Stelle erklärt, aber man erschließt sich dadurch ein weiteres Spektrum, das durchaus zum tieferen Verständnis der auszulegenden Schriftstelle beitragen kann.

Wie lässt sich das Wortstudium vom Neuen Testament auf das Alte Testament erweitern?

Hat man den Gebrauch eines Wortes im Neuen Testament erschlossen, bleibt natürlich noch das Alte Testament. Will man also die Gesamtheit des Wortes Gottes berücksichtigen, kann man nun auch noch das Alte Testament auf Fundstellen  überprüfen. Das ist nicht ganz einfach, weil nicht immer sofort klar ist, welches hebräische Wort genau dem griechischen Wort entspricht. Oft sind es mehrere, und man muss den Zusammenhang beachten, um zu  erkennen, ob es zu dem im Neuen Testament tatsächlich passt. Für den Laien muss hier manches offen bleiben, es sei denn, er bedient sich weiterer Hilfsmittel, um hier mehr Klarheit zu gewinnen. Natürlich kann man sich einfach an dem Befund einer deutschen Konkordanz orientieren. Bei einer solchen ist allerdings nicht erkennbar, ob hinter dem deutschen Wort unterschiedliche Wörter im Hebräischen stecken. Zumindest vom Zusammenhang her wird man jedoch schon einen ergiebigen Befund feststellen können.

Der Rest bleibt den Gelehrten überlassen, deren Erkenntnisse meist in bestimmten Werken (Wörterbücher, Lexika usw.) zur Verfügung stehen. Ob es also noch besondere Feinheiten zu beachten gibt, das können natürlich nur gute Hebraisten herausfinden.

Vor dem gleichen Problem standen übrigens schon die Übersetzer der hebräischen Bibel zu Zeiten der Septuaginta (ca. 200 v. Chr.), die vermutlich für die Wahl und den Gebrauch vieler Begriffe im Neuen Testament maßgeblich war.

Beispielsweise kann das nun mit dem „Exegetischen Handwörterbuch zur Bibel“ von Stephen D. Renn und Michael Dennstedt in Verbindung mit der Elber felder Studienbibel weitgehend gelingen, denn hier wurde einerseits eine wortgenaue deutsche Bibelübersetzung sprachlich und numerisch aufgeschlüsselt und andererseits mit einem gesamtbiblischen Befund verknüpft, der dem Nutzer eine Erfassung nahezu aller relevanten Fundstellen und Bezüge ermöglicht. Schon die Studienbibel selbst bietet in ihrem lexikalischen Anhang dazu ein weites Spektrum, noch mehr aber das „Exegetische Handwörterbuch“, das zusätzlich den alttestamentlichen Befund mit dem neutestamentlichen unter deutschen Begriffen verbindet und auswertet. Auf diese Weise wird der originale Wortschatz der Bibel – hebräisch/aramäisch und griechisch – in seinen feinsten Nuancen transparent und dazu noch mit den deutschen Wörtern und Begriffen der Elberfelder Übersetzung verknüpft. Durch zahlreiche Querverweise und jeweils ein hebräisch/aramäisches und griechisches Register wird man als Nutzer immer wieder auf entsprechende Wortfelder und verwandte Wörter verwiesen, sodass man praktisch von (fast) jedem deutschen Wort aus auf die zugehörigen originalsprachlichen Wörter stoßen kann. Mehr kann man dem Laien kaum bieten, um sich die Originalsprachen der Bibel in Verbindung mit der Textauslegung mehr und mehr zu erschließen.

Natürlich ist das nicht von heute auf morgen zu schaffen, aber es bedeutet schon bei der Auslegung einzelner biblischer Texte einen erheblichen Mehrgewinn, der sich auf Dauer kräftig auszahlt. Man kann also (fast) jeden Bibelleser nur dazu ermutigen, in diese Sphären vorzu dringen, ohne sich dadurch gleich als einem Gelehrten gleichgestellt zu betrachten. Davon bleibt man sicherlich noch weit entfernt. Aber durch fleißiges Arbeiten erleichtert man sich dadurch auch den Zugang zu weiteren theologischen Werken, die heute – oftmals sogar im Internet – zur Verfügung stehen.

Fazit

Sprache als Bedeutungsträger und Vermittler von Wahrheit und deren Kenntnis ist wichtig, aber der Geist Gottes ist noch weitaus wichtiger, um die von Gott geoffenbarte Wahrheit zu erfassen und zu verstehen. So bietet schon eine gute Übersetzung der biblischen Originalschriften in eine andere Sprache genügend Anhaltspunkte, um sich auf die Gedanken Gottes auszurichten. Mit der Kenntnis der Originalsprachen jedoch vermag man punktuell und auf Dauer flächendeckend tiefer in den Text und die Botschaft der Bibel einzudringen.

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