Ist der echte Christ ein Mystiker?

„Der Christ des 21. Jahrhunderts wird Mystiker sein – oder er wird nicht sein“, so hat es der katholische Theologe Karl Rahner (1904– 1984) einmal ausgedrückt. Die Entwicklung des religiösen Zeitgeistes scheint ihm mittlerweile Recht zu geben.

Begeistert sprechen auch Christen heute über ihre religiösen Erfahrungen. Einer spürt die Energie, die von einem bestimmten Ort ausgeht. Der andere empfindet die Gegenwart des Heiligen Geistes während der Anbetung. Noch jemand nimmt in der persönlichen Meditation göttliche Weisungen wahr. Auch Methoden anderer Religionen werden zunehmend vereinnahmt, wenn sie zu den gewünschten spirituellen Erlebnissen führen. Schon bei vorsichtiger Kritik wird dann schnell entgegnet, dass diese Methoden schließlich neutral wären und dem Gläubigen nicht schaden könnten, weil er ja Christ sei.

Mystik ist unmittelbar. Wer ihre Macht fühlt, braucht gewöhnlich keine zusätzlichen Gewissheiten mehr. In einer Welt voller Zweifel und Infragestellungen scheinen mystische Erfahrungen sicher und unhinterfragbar. „Ich habe das erlebt!“, lässt sich eben nicht einfach wegdiskutieren.

Vollkommen falsch wäre es natürlich, die Beziehung zu Gott alleine auf den Verstand und die Rationalität gründen zu wollen. Ebenso wie das Gefühl kann auch der Intellekt zu trügerischen Fehlschlüssen führen. Allein mit der Vernunft beschneidet man das Wirken und Denken Gottes möglicherweise oder verteidigt argumentativ nur das, was man zur Wahrung des eigenen Lebensstiles herbeiwünscht. In einem ausgewogenen Christenleben haben auch emotionale Erlebnisse ihren Platz.

Plötzlich aber wird in manchen Gemeinden jede religiöse Erfahrung, auch die anderer Religionen oder offensichtlich sektiererischer Gruppen, gleichwertig „nebeneinander stehengelassen“. Das aber ist weder logisch stimmig, noch von Jesus je so praktiziert worden. Erfahrungen müssen natürlich immer an nachvollziehbaren Kriterien und vor allem an biblischen Aussagen überprüft werden.

Bereits im Alten Testament fühlten sich viele Israeliten weit mehr von den spirituellen Veranstaltungen zu Ehren Baals und Astartes angezogen als von den oft schnörkellosen Gottesdiensten für Jahwe. Die Propheten, die verkündigten, „was der Seele gut tat“, wurden gewöhnlich gefeiert und mit Geschenken überhäuft, selbst wenn sie eigentlich Betrüger waren. Die falschen Propheten riefen gewöhnlich: „Friede! Friede!, und ist doch nicht Friede“ (Jer 6,14). Die echten Boten Gottes hingegen wurden tendenziell eher verspottet oder sogar verfolgt, weil ihre Botschaft schmerzlich war und selten positive religiöse Schwingungen vermittelte. „Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen […] ebenso haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen sind“ (Mt 5,11).

Auch in der neutestamentlichen Gemeinde sah es diesbezüglich nicht wesentlich besser aus. Paulus wurde von den Korinthern verachtet, weil seine nüchterne Botschaft nicht so spektakulär und erfahrungsorientiert war wie die der Superapostel, gegen die er sich im 1. und 2. Korintherbrief wehren musste. Für das Ende der Zeiten kündigte Jesus sogar eine Schwemme religiöser Erfahrungen und Wunder an, die zahlreiche Menschen in ihren Bann schlagen würde: „Es werden viele zu mir sagen an jenem Tage: Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen geweissagt? […] Haben wir nicht in deinem Namen viele Machttaten getan? Dann werde ich ihnen bekennen: Ich habe euch nie gekannt; weicht von mir, ihr Gesetzlosen!“ (Mt 7,22f.). Jesus warnte immer wieder deutlich davor, dass falsche religiöse Erlebnisse, Lehren und Erfahrungen Christen vom Evangelium wegziehen könnten.

Natürlich finden wir auch in der Bibel unmittelbare Gottesbegegnungen, beispielsweise bei Abraham (1Mo 15), Mose (2Mo 3), Elia (1Kö 19) oder Paulus (2Kor 12). Hier wurden ganz selbstverständlich immer auch Gefühle angesprochen. Diese Erfahrungen waren aber weder machbar noch konservierbar und schon gar kein Ersatz für das normale geistliche Leben mit Gebet, Bibellesen und Gemeinschaft unter den Gläubigen.

Sehr oft beziehen sich die Inhalte eines spirituellen Glaubens auf das eigene Wohlbefinden und auf die Anpassung des Denkens an den jeweiligen Zeitgeist. Endlos kann darüber debattiert werden, wie man die Umwelt besser schützt, die soziale Gerechtigkeit fördert oder die Ernährung gesünder gestaltet. Ob Jesus Gott ist oder nicht, ob die Bibel wahr ist oder nicht, ob bestimmte Formen der Sexualität Sünde sind oder nicht, wird dann gewöhnlich als unwichtig oder sogar als störend betrachtet. Mit dieser Einschätzung steht man allerdings in eindeutigem Widerspruch zu den Aussagen Jesu und der Apostel. Das aber spielt für manche Christen offensichtlich nur eine untergeordnete Rolle, weil es sich schließlich „richtig anfühlt“. „Jeder soll den anderen stehenlassen“, lautet das Mantra der Postmoderne und zwischenzeitlich auch in vielen Gemeinden.

Religiöse Gefühle und Erlebnisse müssen überprüft werden, wenn man nicht Gefahr laufen will, manipuliert zu werden oder sich selbst irrezuführen. Schon immer präsentierte sich der große Gegenspieler Gottes gerne als Engel des Lichts und ahmte die Wunder Gottes so gut nach, dass sie für viele Menschen erstrebenswerter wirkten als die echten.

Wahrhaftige spirituelle Erfahrungen können nicht erzeugt werden, sie kommen nur dann, wenn Gott sie schenken will. Sie treten auch vollkommen unabhängig von gewissen geistlichen Techniken, Veranstaltungen, Musikdarbietungen oder Suggestionen auf. Sie rufen gute, gelegentlich aber auch einschüchternde oder sogar bedrückende Gefühle hervor. Es liegt primär eben nicht an den Wünschen eines Menschen, sondern daran, ob er aus Gottes Sicht nun mehr Trost oder mehr Ermahnung nötig hat; ob er einen Eindruck der Größe Gottes oder doch eher von seiner eigenen Begrenztheit bekommen soll.

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