Inkarnation: Die biblische Grundlage der Lehre von der Menschwerdung und erste dogmatische Fragen

A) Begriff

Das Ereignis, dass der Herr Jesus, der Sohn Gottes von Ewigkeit, Mensch wurde, nennt man „Inkarnation“. Das Wort enthält drei Teile (Morpheme):

  1. „in“: das bedeutet einfach „in“ oder auch „hinein“;
  2. „karn“: das ist das lateinische „carnis“, d. h. „Fleisch“ (im NT bedeutet „Fleisch“ meist „Mensch“) und
  3. „ation“: Endung des Substantivs; sie bezeichnet einen Vorgang.

Inkarnation ist also der Vorgang, durch den eine Sache (hier: das Wort) oder eine Person (hier: der Sohn Gottes) Mensch wird. Wo aber ist das Subjekt dieses Vorgangs?

B) Biblische Grundlage

1. Nicht Gott, sondern Jesus Christus, Gottes Sohn, wurde Mensch

Die entscheidenden Verse finden sich in Johannes 1,1-4.14: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Dieses war im Anfang bei Gott. Alles wurde durch dasselbe, und ohne dasselbe wurde auch nicht eines, das geworden ist. In ihm war Leben, und das Leben war das Licht der Menschen … Und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns, und wir haben seine Herrlichkeit angeschaut, eine Herrlichkeit als eines Eingeborenen vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“

Das Wort wird personifiziert. Es war in der Gegenwart Gottes (in unserer Vorstellung: am gleichen Ort und zur gleichen Zeit), und es bestand mit Gott in einer Einheit. Es war so gleich am Anfang (der Schöpfung) – nicht am Anfang Gottes, denn der hat keinen Anfang. Das Wort schuf alles: das ganze Universum – ohne Einschränkung. Es ist Leben und Licht, und beides vermittelt es den Menschen. Das Wort hat so eine ungeheure Energie und Intelligenz (Weisheit), wie wir sie nur bei Gott selbst finden. Die Begriffe „Wort“ und „Gott“ sind nicht absolut inhaltsgleich, denn sie werden unterschieden, z. B. durch die Präpositionen „bei“ und „in“. Nun wurde das Wort Fleisch, also Mensch, und es gesellte sich zu den anderen Menschen. Die Zeitgenossen sahen das Mensch gewordene Wort Gottes. Dieser Mensch hatte eine besondere Ausstrahlung. Es gehörte aber schon tiefe geistliche Einsicht dazu, die Herrlichkeit des Vaters, seine Gnade und Wahrheit in diesem Menschen zu erkennen.

Wir unterscheiden also den Vater von dem Sohn, wie wir auch „das Wort“ von „Gott“ unterscheiden. Das heißt daher: Nicht Gott wurde Mensch, sondern Gottes Sohn. Der einzige Gott, der Dreieine, die Gottheit (Kol 2,9), offenbarte sich als Vater, Sohn und Heiliger Geist. Das sind die drei göttlichen Personen, die alle göttliches Wesen haben, aber in ihren Einwirkungen auf den Menschen verschieden sind.

2. Jesus Christus: Er war der Mensch ohne Sünde

Dass Jesus Christus ein Mensch war, ist heute im Allgemeinen kein Streitpunkt mehr. Nur für Christen kommen da Fragen auf. Das Neue Testament zeigt uns Jesus als einen Mann, der sich äußerlich in nichts von seinen Zeitgenossen unterschied. Die Juden kannten den Sohn des Zimmermanns (Mt 6,3). Er selbst war auch Zimmermann (Mk 6,3). Er war wie wir, Mensch unter Menschen, eben einer von uns. Er redete zwar mit Vollmacht, aber doch wie ein Mensch. Er fühlte auch Hunger und Schmerz.

War er also nichts als Mensch? Nein! So nicht! Er hatte zwar die Gestalt eines Menschen – des Fleisches der Sünde –, aber das, was unbedingt zum Menschen gehört und ihn charakterisiert, nämlich Sünde, das hatte er nicht: Gott sandte seinen eigenen Sohn in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde und für die Sünde und verurteilte die Sünde im Fleisch (Röm 8,3). Wenn Jesus Christus das Mittel gegen die Sünde war, wie konnte er dann selbst Sünder sein? Denn: „Den, der Sünde nicht kannte, hat er für uns zur Sünde gemacht, damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm“ (2Kor 5,21).

3. Jesus Christus: Als Sohn Gottes ist er Gott gleich

Das Kind, der Messias, der nach Jesaja 9,5 geboren werden sollte, wird auch „starker Gott, Vater der Ewigkeit“ genannt. Die Gleichstellung mit Gott dem Vater fällt hier besonders auf. Der Herr selbst hat sich zu seinem engen Verhältnis zum Vater bekannt. Von sich bekundet er, eins mit seinem Vater im Himmel zu sein: „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30). Er wusste, dass die Juden sein Verhältnis zu seinem Vater nicht verstanden. Sie sagten: Wenn er sich Gottes Sohn nennt, dann macht er sich Gott gleich. „Darum nun suchten die Juden noch mehr, ihn zu töten, weil er … Gott seinen eigenen Vater nannte und sich so selbst Gott gleich machte“ (Joh 5,18). Er musste aus ihrer Sicht schon allein wegen Gotteslästerung getötet werden.

In seinem Wesen war er Gott gleich, aber nicht in seiner Person: „Wir wissen aber, dass der Sohn Gottes gekommen ist und uns Verständnis gegeben hat, damit wir den Wahrhaftigen erkennen; und wir sind in dem Wahrhaftigen in seinem Sohn Jesus Christus. Dieser ist der wahrhaftige Gott und das ewige Leben“ (1Jo 5,20). Wir sehen, dass der Sohn Gottes gekommen ist und nicht der Wahrhaftige (d.h. der dreieine Gott), den wir in dem Sohn erkennen sollen. Trotzdem ist dieser ebenso wahrhaftiger Gott wie der Wahrhaftige.

C) Erste dogmatische Fragen

Wie die beiden Naturen Christi, die menschliche und die göttliche, zusammenstehen – diese Frage kam bald auf.

1. Irrtümer

Da meinte man, der Herr Jesus sei gar nicht Mensch, es habe nur so ausgesehen. In Wahrheit sei er ein göttliches Wesen, denn Leiblichkeit sei Gottes unwürdig (Gnostiker um 100). Das nennt man Doketismus (dokein: scheinen). Die Gegenposition ist, dass er lediglich ein Mensch sei und Gott ihn in der Taufe als seinen Sohn adoptiert habe (Adoptianer). Oder aber in Christus sei zwar der göttliche Geist (logos), aber im Grunde sei er Mensch (Arius, †335). Die Auffassung der Adoptianer und Arianer setzte sich vor allem seit der Aufklärung durch. Bis heute glauben viele Menschen, auch einige, die Christen sein wollen, nicht an die Göttlichkeit des Sohnes Gottes.

2. Rechter Glaube

Im Konzil zu Nicäa (325) setzte sich die richtige Auffassung von Jesus Christus durch: „Wir glauben an den einen Gott … und an den einen Herrn Jesus Christus, den Sohn Gottes, als Einzig-Geborener gezeugt vom Vater, das heißt aus der Wesenheit des Vaters, Gott von Gott, Licht vom Lichte, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, wesenseins mit dem Vater …“

Diejenigen aber, die da sagen, es habe eine Zeit gegeben, da der Sohn Gottes nicht war, und er sei nicht gewesen, bevor er gezeugt wurde, und er sei aus nichts geworden oder aus einer anderen Substanz oder Wesenheit, oder der Sohn Gottes sei wandelbar oder veränderlich, diese schließt die apostolische und katholische Kirche aus.

D) Vorsicht! Geheimnis!

Über die Jahrtausende blieb das Geheimnis des Christus verankert im Bewusstsein der Christen, die nicht nachvollziehen konnten oder wollten, was die hohe Theologie dachte. Sie hielten am Wort Gottes fest, selbst wenn sie dazu Fragen hatten.

„Anerkannt groß ist das Geheimnis der Gottesfurcht: Der (Gott) geoffenbart im Fleisch, … geglaubt in der Welt, aufgenommen in Herrlichkeit, …“
(1Tim 3,16)

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