Flaschenhals Gemeindeleitung??

In einer der ersten Megagemeinden, die uns in der Bibel vorgestellt wird, gab es Unzufriedenheit und Ärger. In Apostelgeschichte 6 machten die griechischen Christen ihrem Ärger Luft. Ihre Witwen wurden bei der Essensausgabe übersehen. Die hebräischen Witwen dagegen bekamen reichlich.

Offensichtlich waren die Apostel stark damit beschäftigt, Kellner zu sein. Ihre eigentliche Aufgabe, den Christen geistliche Speise zu geben, kam dabei zu kurz. Deshalb zogen sie die Notbremse. Sie suchten andere Christen, die die diakonischen Aufgaben übernahmen. So konnten sich die Apostel auf das Gebet und auf die Verkündigung des Evangeliums konzentrieren (Apg 6,4).

Damit hatte eine der ersten Gemeinden das erlebt, was viele Gemeinden erleben, die größer werden. Der Tag kommt, an dem die Verantwortlichen nicht mehr alles überblicken können. Die Gemeindeleitung wird zum Flaschenhals der Gemeinde und die Arbeit stagniert. Deshalb ist es wichtig, andere Christen zu berufen, Aufgaben zu übernehmen. Dieser Schritt verhindert, dass Christen in der Gemeinde übersehen werden und sich Unzufriedenheit breit macht. Außerdem werden Christen frühzeitig daran gewöhnt, in der Gemeinde mitzuarbeiten.

Der Herr Jesus hat sich viel Zeit für seine zwölf Jünger genommen. Jesus wusste: Nach drei Jahren werden sie meinen Dienst übernehmen. So hat auch Paulus gearbeitet. Der Apostel wollte, dass seine Mitarbeiter wieder andere in Dienste berufen, damit die Arbeit auf viele Schultern verteilt werden kann (2Tim 2,2).

Auch wir als Verantwortliche merkten vor einiger Zeit, dass wir viele Dienste nicht mehr ausreichend tun konnten. Unsere Gemeinde „Evangelium für Alle“ in Stuttgart geht zurück auf einen Frauengebetskreis, welcher sich nach dem zweiten Weltkrieg bildete. In den achtziger Jahren entstand der Wunsch, Gemeinde zu werden. Dafür wurde ein vollamtlicher Mitarbeiter angestellt. Mit der Zeit wuchs die Gemeinde und weitere Anstellungen folgten. Insbesondere der letzte Umzug führte zu einem starken zahlenmäßigen Wachstum, sodass sich sonntags „plötzlich“ über 300 Personen in der Gemeinde versammelten.

Unsere Gemeinde in Stuttgart ist klein im Vergleich zur Gemeinde in Jerusalem. Aber die Unzufriedenheit war ähnlich. Vielleicht nicht bei den Geschwistern, aber bei uns Verantwortlichen. Wir hatten den Eindruck, dass manche Geschwister nicht mehr ausreichend ver sorgt wurden.

Wir beteten um Gottes Leitung in dieser Situation. Gott hatte uns in der letzten Zeit manche neue Gemeindemitglieder geschickt. Deshalb wünschten wir uns seine Leitung, um einen Weg zu erkennen, wie wir diese geistlich versorgen konnten.

Auf der Suche nach biblischen Lösungsansätzen

Wir nahmen uns als Leitungskreis bewusst ein Wochenende Zeit, um über die Situation gründlich nachzudenken. Wir beschäftigten uns mit den Strukturen, die die Bibel zeigt. Es überraschte uns regelrecht, wie konkret und ganz selbstverständlich Strukturen in der Bibel beschrieben werden (z.B. 2Mo 18,13-27; Apg 6,1-7; 1Tim 5,9-12 – außerdem zeigt 3. Mose sehr anschaulich, wie Gott konkret Aufgaben verteilt).

Wegweisung erfuhren wir außerdem durch einige christliche Bücher. Sie ermutigen uns, einen klaren biblischen Fokus zu bewahren. Insbesondere wurden wir herausgefordert, uns mit den Zielen zu beschäftigen, die eine Gemeinde nach Gottes Plan verfolgen sollte. Uns wurde klar, dass wir mittelfristig einiges neu starten, uns aber andererseits auch wieder fokussieren und damit manche Gemeindeaktivitäten reduzieren mussten. Gemeindemitglieder sollten nicht bereits mit den regelmäßigen Veranstaltungen überfrachtet sein, sondern Freiräume zur ehrenamtlichen Mitarbeit und zur persönlichen Evangelisation haben. Andererseits sollte aber auch jedes Gemeindemitglied nicht nur geben müssen, sondern eine Gruppe haben, um Gemeinschaft zu erleben und geistlich auftanken zu können.1

Bereits früher hatten wir als Gemeinde klare Ziele formuliert. Jesus Christus hat uns in der Bibel Aufträge gegeben, die wir als Gemeinde erfüllen wollen. Der Begriff E.H.R.E. steht für diese fünf Aufträge: Als „Evangelium für Alle“-Gemeinde in Stuttgart wollen wir Gott ehren, indem wir Menschen mit der guten Nachricht von Jesus Christus Erreichen, ihnen in unserer Gemeinde eine Heimat bieten, ihnen helfen, als Christen zu Reifen und ihre Gaben Einzusetzen, damit sie wieder andere für Jesus erreichen.2

Dieses gut formulierte Leitbild wurde nun mit Inhalt gefüllt, auf die einzelnen Bereiche heruntergebrochen und damit zum Leben erweckt. Das war vorher nur begrenzt der Fall. Nun sollte sich dieses Leitbild im Leben jedes einzelnen Gemeindemitgliedes widerspiegeln. Was wir dazu als Gemeinde anbieten ist u.a. ein Infoplakat im Foyer für jeden ersichtlich.

Wie man in der „Masse“ nicht allein bleibt

Bei unseren weiteren Überlegungen stellten wir auch fest, dass wir die Gemeinde zwar bereits früher in geographische Bereiche eingeteilt hatten, dort aber in der Zwischenzeit mehr Menschen wohnten, als wir besuchen konnten. In einem Fall war ein Leiter neben seinem Beruf für 70 Personen zuständig. Das zeigte uns, dass die alten Strukturen weiteres Wachstum eher bremsten als förderten.

So teilten wir die Gemeinde in Bereiche ein, die nicht mehr als zehn Haushalte umfassen sollten. Diese Bereiche haben wir „regionale Zellen“ genannt. Die kleinste organische Einheit. Diesen Zellen wurde ein Verantwortlicher zugeteilt, der mit den Menschen Kontakt hält. Dieser Verantwortliche hat seinerseits einen Ansprechpartner, mit dem er verschiedene Dinge besprechen kann. So ist der Verantwortliche nicht allein. Außerdem sucht sich der Verantwortliche aus seiner Zelle Mitarbeiter, die ihm helfen, aufeinander Acht zu haben, um sich gegenseitig auf dem Weg mit Jesus zu ermutigen. Durch diese Aufteilung ergaben sich bei uns 14 regionale Zellen.

Durch die deutlich kleinere Gruppe bleiben die Einzelnen in Kontakt miteinander und können so auch zielgerichteter füreinander beten. Um dies zu fördern, verfolgen wir außerdem das Ziel, dass in jeder regionalen Zelle ein wöchentlicher Hauskreis stattfindet. Abwechselnd stehen das Bibelgespräch3 oder das Gebet im Mittelpunkt. Wir ermutigen die Christen, sich unbedingt diesen Treffen in ihrer Zelle anzuschließen. Wenn die Gemeinde größer wird, ist es noch wichtiger, dass der Einzelne Vertrauenspersonen hat, mit denen er das besprechen kann, was ihn innerlich bewegt.

Das geistliche Leben und das persönliche Miteinander spielt sich in Kleingruppen ab. Hier findet das Gespräch über die Bibel und die Herausforderungen des Alltags statt. Hier betet man gemeinsam, um Gottes Willen zu erkennen und zu tun. Der Gottesdienst gibt Ausrichtung und auch seelsorgerliche Hilfe. Aber mit zunehmender Größe wird es immer schwieriger, persönliche Kontakte zu pflegen, die über den bekannten Kreis hinausgehen. Durch einen wöchentlichen Hauskreis können Gemeindemitglieder Heimat finden und geistlich wachsen.

Wie man unter Aufgaben nicht zusammen­bricht

Als wir an dem besagten Wochenende über unsere Gemeindesituation nachdachten, schrieben wir in einem ersten Schritt jeden Dienst, der in der Gemeinde vorkommt, auf eine Karte.

In einem zweiten Schritt ordneten wir sie dem zu, der diesen Dienst tat bzw. dafür verantwortlich war. Das Ergebnis war erschreckend. Manche Namen waren unter der Fülle der Aufgaben gar nicht mehr zu sehen und manche Dienste wurden von niemandem verantwortet.

So begannen wir, die verschiedenen Aufgaben verschiedenen Bereichen zuzuordnen. Dabei berücksichtigten wir nicht nur Aufgaben, die es schon gab. Wir schrieben auch alle Dienste auf, die wir dringend brauchten. Auch, wenn es noch keinen Mitarbeiter dafür gab.

Dabei stellten wir auch fest, dass viele Aufgaben, die gemacht wurden, gar nicht genau beschrieben waren. Man wusste ungefähr, was man zu tun hatte. Oft war aber auch nicht klar, was jemand machen sollte, der sich zur Unterstützung für eine Aufgabe anbot. Wir erkannten, dass wir nur die Aufgaben gut abgeben konnten, die wir genau definiert hatten. Also begannen wir, unsere Aufgaben zu beschreiben. Dabei war uns vor allem das geistliche Ziel wichtig, das wir mit der jeweiligen Aufgabe erreichen wollten.

Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Aber schon jetzt wird klar, wie wichtig diese Beschreibungen sind. Wenn jemand „Neues“ in eine Aufgabe hineinkommt, können wir ihm genau sagen, was er tun soll und was andere machen. Das schafft Klarheit und auch Zufriedenheit bei den Mitarbeitern. Plötzlich wissen sie, worauf sie sich konzentrieren sollen.

Durch die Strukturübersicht ist auch klar, wer welche Aufgaben abgeben sollte, damit er sich auf anderes konzentrieren kann. Damit er nicht „die Tische bedient“, aber eigentlich am Gebet und der Verkündigung des Wortes anhalten sollte (vgl. Apg. 6).

Wir haben die Aufgaben zu bestimmten Bereichen zusammengefasst. Für diese Bereiche suchten wir Leiter. Diese Leiter sitzen zusammen an einem Tisch und gehen manche Herausforderungen gemeinsam an. Das wird zunehmend eine große Entlastung für die Ältesten, die die Last nicht mehr alleine tragen müssen.

Bei uns hängt diese Übersicht zwischenzeitlich ebenfalls im Foyer aus. Neben der Gesamtstruktur haben wir auch eine detaillierte Auflistung jedes Dienstes. So können sich nicht nur neue Gemeindemitglieder in der wachsenden Gemeinde orientieren. Die Übersicht hilft, den richtigen Ansprechpartner zu finden. Durch die zusätzliche Hinterlegung der Dienste mit Ampelfarben wird direkt deutlich, welche Dienste dringend oder mittelfristig neu zu besetzen sind.

Wir haben uns vorgenommen, nun weder neue Gemeindemitglieder auf der Ersatzbank sitzen zu lassen, bis sie sich selbst melden, noch von Gott besonders begabte Gemeindemitglieder mit vielen kleinen Aufgaben zu überfrachten. Gott hat jedem Christen Gaben gegeben, die er einsetzen sollte.

Deshalb bieten wir regelmäßig einen Kurs für neue Gemeindebesucher an („Kompasskurs“), in dem wir in sechs Lektionen das erklären, was uns als Gemeinde wichtig ist. Wenn Gemeindebesucher zu Gemeindemitgliedern geworden sind, nehmen wir sie in einen Mitarbeiterkurs hinein. Hier werden Grundsätze des Dienstes für Jesus genauso besprochen, wie konkrete Dienstmöglichkeiten. Einige Verantwortliche sprechen dann über die verschiedenen Dienstmöglichkeiten für neue Gemeindemitglieder und klären miteinander, welche Dienste sie dem „Neuen“ im Gespräch mit ihm vorschlagen werden.

Wir haben in kurzer Zeit vieles in der Struktur verändern müssen, weil wir etwas überrollt wurden. Es kamen viel mehr „Neue“ in die Gemeinde, als wir erwartet hatten. Gerade diese Neuen können sich nun schnell und einfach in der Gemeinde zurechtfinden und integrieren. Für alle Gemeindemitglieder, welche die Zeit der Umstrukturierung miterlebt haben, war es nicht immer leicht, gerade weil es so viele Neuerungen gab. Wir haben aber als Gemeinde erlebt, wie Gott sich zu dieser Umstrukturierung gestellt hat und wir als Gemeinde dadurch geistlich wachsen durften.

Auch wenn Strukturen kein Leben schaffen, können fehlende Strukturen geistliches Wachstum behindern. Durch klare Strukturen entstehen Freiräume, die geistliche Kraft freisetzen. Genauso haben es die Apostel erlebt (Apg 6,7) – und wir auch. Dabei sind wir natürlich noch auf dem Weg und werden manches in Zukunft vielleicht auch nochmals überdenken und anpassen müssen (wie es in Jerusalem bestimmt auch getan werden musste). Aber bis hierher haben wir sehr positive Erfahrungen gemacht und geben diese auch gerne weiter.

Deshalb möchten wir auch kleineren Gemeinden einige Prinzipien dringend ans Herz legen:

Wie man eine wachsende Gemeinde strukturell begleitet

  1. Beschäftige dich mit den Strukturen, die die Bibel zeigt (z.B. 2Mo 18,13-27; Apg 6,1-7; 1Tim 5,9-12 – außerdem zeigt 3. Mose sehr anschaulich, wie Gott konkret Aufgaben verteilt). Erkenne, welche Probleme durch mangelnde Strukturen entstehen können und wie durch Strukturen geistliche Kraft freigesetzt werden kann. Ein geistliches Verständnis für dieses Thema ist Voraussetzung, um die Gemeinde biblisch leiten zu können.
  2. Beschäftige dich mit den Zielen, die Gott für die Gemeinde gibt. Dies ist eine weitere entscheidende Voraussetzung. Die Struktur selbst ist nicht das Ziel, sondern sie hilft, diese Ziele als Gemeinde zu leben. Wo nehmen wir als Gemeinde biblische Verantwortung nicht wahr? Wo haben wir als Gemeinde zu viele Veranstaltungen?
  3. Erkenne Hindernisse in der Struktur, indem du dich mit dem IST-Zustand beschäftigst. Welche Dienste werden aktuell in der Gemeinde getan? Ordne diese Dienste den jeweiligen Verantwortlichen zu. Dadurch werden eventuelle Strukturprobleme sichtbar.
  4. Werde dir klar darüber, welche Dienste in der Gemeinde wichtig sind (SOLL-Zustand). Fasse diese zusammen und setze Verantwortliche für bestimmte Bereiche ein. Diese Verantwortlichen sollen die Christen ihres Bereichs in ihrem Dienst ermutigen und begleiten. Außerdem können sie die Ältesten in der Fürsorge für Menschen unterstützen.
  5. Schreibe auf, welche Aufgaben jemand in einem bestimmten Dienst zu erledigen hat. Das sorgt für Klarheit und schützt Personen davor, sich zu überfordern. Wenn Aufgaben klar beschrieben sind, können sich Gemeindeglieder vorstellen, was auf sie zukommt und sind oft eher bereit, diesen Dienst zu tun.
  6. Achte darauf, möglichst viele Gemeindemitglieder in Dienste hineinzunehmen, damit sie ihre Gaben für Jesus einsetzen können.
  7. Achte darauf, dass jedes Gemeindemitglied in einer überschaubaren Kleingruppe ist. Sage den Kleingruppenleitern, wie sie Sorge für ihre Besucher tragen können. Zeige den Kleingruppenleitern, wie sie ein Team gewinnen können, das ihnen hilft.
  8. Beziehe die Gemeinde die ganze Zeit über in die Umstrukturierung mit ein. Gestalte diesen Prozess transparent. Vermittle den geistlichen Hintergrund und betet gemeinsam um Weisheit, Demut und Führung.
  9. Nachdem die neue Struktur steht, muss sie auf verschiedene Weise publiziert und möglichst vielen kommuniziert werden. Nach und nach wird sie nun in allen Bereichen umgesetzt und ins Leben gerufen. In dieser Phase ist es wichtig, in regelmäßigen Abständen die Umsetzung zu besprechen und ggf. kleine Anpassungen vorzunehmen.
  10. Denke betend voraus und frage dich, wo die Gemeinde vielleicht in fünf Jahren sein wird. Was werden dann die Herausforderungen sein? Manche davon sind abzusehen. Schade, wenn man erst in fünf Jahren anfängt zu denken. Leitung bedeutet, nahe beim Herrn zu bleiben und so Entscheidungen zu treffen, die in der Zukunft für die Gemeinde positive Auswirkungen haben.

 

Fußnoten

(1) Ganz stark geholfen hat uns das Buch „Simple Church“ von Thom Rainer und Eric Geiger. Ihre (fast zu starke) Betonung auf Simplizität hat uns die Bedeutung dieses Prinzips für unsere immer komplexer werdende Welt deutlich gemacht. Nach ihren Ausführungen sollte sich jede Gemeinde fokussieren auf: Connect – Grow – Serve. In unseren Worten ist es Heimat, Reifen und Einsetzen.
(2) Das Akronym E.H.R.E und manche Ausführungen dazu, haben wir freundlicherweise übernehmen dürfen von der FeG Gießen (feg- giessen.de).
(3) In unseren Hauskreisen betrachten wir meistens einen Textabschnitt aus der Bibel. Anhand von fünf Fragen beobachten wir zunächst die Aussage des Textes, lernen sie zu verstehen und anschließend auf unser Leben praktisch anzuwenden. Unsere extra dafür erstellten Hauskreishefte können in der Leiter- und Teilnehmerversion über den CMD-Verlag bezogen werden.

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