Ergriffen – mit jedem Herzschlag Christus denken

„Herr Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer nieder!“ ist im deutschsprachigen Raum wahrscheinlich das bekannteste Zitat des ehemaligen Präsidenten Ronald Reagan (1980–1988). Der markante Satz war Teil seiner Rede vor der Berliner Mauer anlässlich des 750-jährigen Jubiläums der Stadt im Jahr 1987. Genau betrachtet ist der historische Ausspruch allerdings eine falsche Zuordnung, denn er stammt nicht von Reagan, sondern von Peter Robinson, einem der Redenschreiber Reagans.

Der ergriffene Redenschreiber

Um im Sinne und Geiste seines Präsidenten schreiben zu können, suchte der junge Robinson die Nähe Reagans, wann und wo immer er nur konnte. Er las über ihn, was ihm zur Verfügung stand, notierte sich jedes Wort, das er von ihm hörte. Mehr und mehr wurde er ergriffen von seinem Präsidenten und begann zunehmend, so zu denken und zu handeln wie er. In dieser inneren Einheit mit den Ansichten und Visionen seines Dienstherrn schrieb Robinson die Berliner Rede, die Ronald Reagan gegen alle Bedenken seiner Berater verteidigte, die den Mauersatz zu provokant fanden und gestrichen haben wollten. Reagan identifizierte sich mit dem Inhalt der Aussage, da sie seinem eigenen Herzensanliegen völlig entsprach. Er beendet alle Diskussionen mit dem deutlichen Hinweis: „Das ist genau das, was ich sagen möchte. … Wir lassen ihn [den Satz] drin.“ (1)

Der ergriffene Paulus

Paulus begreift auf dem Weg nach Damaskus, dass Christus so ergriffen von ihm und seiner (Sünden-) Not ist, dass er sich mit ihm auf Golgatha eins machte, sich mit ihm identifizierte, für ihn in Gericht und Tod ging. In der glaubensvollen Annahme des Versöhnungsangebotes Gottes findet Paulus ein neues Leben, das ihn so sehr packt, dass er aus dem Gefängnis heraus schreiben kann: „Denn für mich ist Christus das Leben … Ich bin von Jesus Christus ergriffen“ (Phil 1,21; 3,12). Das alte Leben ist Vergangenheit. Sein gesamtes Denken, Reden und Handeln gestaltet sich aus dem neuen Leben in Christus, aus dem Ergriffen-Sein des Sohnes Gottes.

Die ergriffenen Nachfolger

Konsequenterweise fordert Paulus auch seine Zuhörer und Leser auf: „Seid nun Nachahmer Gottes als geliebte Kinder“ (Eph 5,1). Aus dem Wort „Nachahmer“ lässt sich der Begriff „imitieren“ ableiten. Imitieren oder nachahmen kann man eine Person nur dann, wenn man sie lange beobachtet und studiert hat, wenn man von ihr derart eingenommen und fasziniert ist, dass die Nachahmung automatisch gelingt. Nicht von ungefähr verweist Paulus mit Blick auf die Nachahmung auf die Kinder. Aus großer Bewunderung machen sie ihren Eltern manches nach, weil sie so sein möchten wie sie.

Die Erfahrung des Ergriffenseins des Paulus ist kein antikes Erlebnis für geistliche Überflieger, sondern eine (im wahrsten Sinne des Wortes) kinderleichte Realität für jede Gläubige und jeden Gläubigen. Es geht nicht um die Ansammlung theologischen Fachwissens oder lehrmäßiger Grundprinzipien, die uns per se in den Stand des Erfüllt-Seins versetzen würden. Eine reine Wissensanhäufung macht uns in der Praxis allenfalls zu religiösen Redekünstlern oder dozierenden Schwätzern. Biblische Wahrheit und göttliche Fülle müssen uns vielmehr zu lebendiger und alltagstauglicher Wirklichkeit werden.

Der ergriffene Missionar

Der sterbenskranke Afrika-Missionar David Livingstone (1813–1873), am Ende seines Lebens nicht mehr als ein körperliches Häuflein Elend, schreibt kurz vor seinem Tod in sein Tagebuch: „Mein Jesus, mein König, mein Alles; ich gebe dir nochmals mein ganzes Leben hin.“ (2) Augenblicke vor dem Sterben gleitet der ausgemergelte Mann von seinem Bett hinunter und geht kniend im Gebet in die Ewigkeit hinüber. Einen solchen Tagebucheintrag der neuen Über- und Hingabe kann nur schreiben, wer von seinem Erlöser völlig durchdrungen ist und ihn mit jedem Herzschlag denkt.

Wir brauchen mehr gläubige Frauen und Männer wie Livingstone, die so von Christus ergriffen sind, dass sie als Orientierungslichter vorangehen und dadurch Nichtgläubige zu Christus führen und Gläubige zur Nachfolge in Hingabe anspornen.

Der ergriffene Anbeter

Im Nachdenken über das Handeln Gottes, in der Stille und im Austausch vor und mit Christus, steigert sich Paulus‘ Ergriffenheit am Ende zur Anbetung: „Ihm, Gott, sei die Herrlichkeit in der Gemeinde in Christus Jesus …“ (Eph 3,21). Peter Robinsons Buch über seine Zeit mit Reagan trägt den programmatischen Titel „Wie Ronald Reagan mein Leben veränderte“. Unser Leben sollte unter der analogen Überschrift stehen: „Wie Jesus Christus mich ergriff und mein Leben veränderte“.

Der ergriffene Sklavenhändler

John Newton (1725–1807), gott- und ruchloser Kapitän eines Sklavenschiffs und bekannt für Ausschweifungen aller Art, erlebte das Ergriffen-Werden von Gott auf ganz besondere Weise. Am 21. März 1748 geriet sein Schiff in der Irischen See in einen desaströsen Sturm. Das Segel zerfetzt, die Masten gebrochen, von Wellen umgeben, rief Newton in den Sturm: „Möge Gott uns gnädig sein!“, um unmittelbar danach hinzuzufügen: „Aber welche Gnade könnte es für mich geben?“ Dennoch betete er weiter, und wie durch ein Wunder ebbte der Sturm ab.

In seinem autobiografischen Werk „Aus der Tiefe“ (Out of the Depths) schrieb Newton später: „Der 21. März ist ein Tag der Erinnerung für mich. … An diesem Tag sandte der Herr Hilfe von oben und errettete mich aus tiefen Wassern.“ Gott warf den Sturm aufs Meer, um Newton zu ergreifen und zu einem Werkzeug in seinem Reich zu machen. Und in der Tat gab Newton die Schifffahrt und den Sklavenhandel auf, wurde ordinierter Pastor in Olney und schrieb u. a. viele geistliche Lieder, von denen Amazing Grace (1779) das wohl bekannteste sein dürfte. In diesem Lied beschreibt Newton seinen ehemals hoffnungslos verlorenen Zustand und das Wunder der Gnade Gottes, das ihn in der Irischen See auf ewig ergriff und erfüllte:

Amazing grace!
How sweet the sound,
That saved a wretch like me!
I once was lost, but now am found,
Was blind, but now I see.

O Gnade Gottes, wunderbar
hast du errettet mich!
Ich war verloren ganz und gar;
war blind, jetzt sehe ich. (3)

 

Literatur:

(1) Robinson, Peter: „How Ronald Reagan Changed My Life”. Regan Books, an Imprint of Harper Collins Publishers, New York: 2003, pp. 85.113

(2) Bühne, Wolfgang: „Das Gebetsleben Jesu – Ermutigung und Herausforderung“. Christliche Literatur-Verbreitung, Bielefeld: 2011, S. 15

(3) von der Mühlen, Martin: „Fünf Tore, fünf Schlüssel und eine Schatzkammer“. Christliche Verlagsgesellschaft, Dillenburg: 2017, S. 152-153

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