Einige Besonderheiten des Übergangs in der Apostelgeschichte

Das Anliegen dieses Artikels

Wir gehen davon aus, dass uns in der Bibel nicht nur Geschichte erzählt wird, sondern dass Gott uns Einblick in seine Heilsabsichten gewährt und den Fortschritt der Heilsgeschichte mitteilt. Es ist nicht immer alles gleich, sondern Schritt für Schritt gestaltet Gott bis zur Vollendung seine Geschichte mit der Menschheit. Es werden Epochen abgeschlossen und neue begonnen. Wer die Bibel liest, noch mehr wer sie auslegt und Lehren und Regeln aus ihr ableitet, ist gut beraten, auf diese Schnitte in der Geschichte zu achten und einen Blick für Kontinuität und Veränderung zu entwickeln.

Als unser Herr anfing, seine Mission vorzustellen und zu erklären, ließ er keinen Zweifel, dass genau in diesem Moment eine neue „Zeitrechnung“ beginnt: „Das Gesetz und die Propheten gehen bis auf Johannes; von da an wird die gute Botschaft vom Reich Gottes verkündigt …“(Lk 16,16). Mit ihm beginnt also eine neue Botschaft. Er ist noch in der Zeit des Gesetzes tätig und viele seiner Worte gründen sich auf die Offenbarungen unter dem Gesetz, aber seine Rede zielt schon auf etwas Neues. Wo er ist, ist das Reich Gottes angebrochen. Nach der Auferstehung setzt er 40 Tage lang die Unterweisung seiner Jünger über die Dinge, die das Reich Gottes betreffen, fort (Apg 1,3; vgl. 28,30.31).

Besonders die ersten Seiten der Apostelgeschichte sind nun der Bericht von der Zeit, da die Belehrung und Vorbereitung der Jünger in die Phase der Umsetzung tritt: Tausende kommen zum Glauben, die ersten Gemeinden entstehen. In dieser ersten Phase werden wir über einige Abläufe und Besonderheiten informiert, die genau da ihren Platz und ihre Berechtigung hatten, aber nicht als Regel für die Gemeindegeschichte verstanden werden können. Versteht man sie dennoch als solche, liefern sie die Grundlage für eigenwillige Lehrbildungen, deren allgemeine Berechtigung man hinterfragen muss.

1.  Besonderheiten beim Geistempfang

Wir beginnen unsere Überlegungen bei den Worten des Herrn, die uns Johannes überliefert hat:

„Dies aber sagte er von dem Geist, den die empfangen sollten, die an ihn glaubten; denn noch war der Geist nicht da, weil Jesus noch nicht verherrlicht worden war.“ (Joh 7,39)

„Doch ich sage euch die Wahrheit: Es ist euch nützlich, dass ich weggehe, denn wenn ich nicht weggehe, wird der Beistand nicht zu euch kommen; wenn ich aber hingehe, werde ich ihn zu euch senden.“ (Joh 16,7)

Damit ist eigentlich ein gut verstehbarer und berechenbarer Ablauf zu erwarten:

  • Der Zeitpunkt: Der Heilige Geist wird kommen, wenn der Herr von dieser Erde weggegangen sein wird.
  • Die Voraussetzung: Den Heiligen Geist bekommen alle, die an Jesus Christus glauben.
  • Die Vermittlung: Es ist nicht erkennbar, dass vermittelnde Personen oder Instanzen erforderlich sind.

Wenn man weiterliest, stellen sich doch gewisse Überraschungen ein, denn es läuft nicht alles so geregelt ab, wie man nach diesen Texten erwarten könnte.

Erste Überraschung: Ist das nicht zu früh?

Auf die erste Überraschung trifft man noch im Johannesevangelium. Kurz nach Kreuzigung und Auferstehung begegnet er seinen Jüngern und dabei geschieht dies:

„Und als er dies gesagt hatte, hauchte er sie an und spricht zu ihnen: Empfangt Heiligen Geist! Wenn ihr jemandem die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben, wenn ihr sie jemandem behaltet, sind sie ihm behalten.“ (Joh 20,22.23)

Hatte er nicht davon gesprochen, dass der Heilige Geist erst nach seinem Weggang kommt? Wie können wir das verstehen? Es sind zwei Beobachtungen, die uns bei der Einordnung helfen können:

  1. Betrachtet man Joh 20,22.23 zusammen, so gewinnt man den Eindruck, dass es sich dabei um einen Scheck handelt, der erst am Pfingsttag gültig wird. Nach den vorliegenden Berichten hat vor diesem Tag weder die Verheißung von V. 22 noch die von V. 23 Auswirkungen.
  2. Aus der Rückschau der Jünger begann ihr Leben mit dem Heiligen Geist zu Pfingsten, und nicht davor (Apg 11,15).

Die angekündigte Wirksamkeit des Heiligen Geistes begann wirklich erst mit dem Pfingstfest. Was hier geschieht, könnte eine Hilfe für die Jünger sein, die Zeit zwischen Auferstehung und Pfingsten zu überbrücken. Der Herr erscheint ihnen in dieser Zeit, aber es ist nicht mehr die Nähe wie in den drei Jahren davor. Vielleicht gewährt er ihnen den Heiligen Geist als Ausgleich dieses Defizits.

Zweite Überraschung: Der Geistempfang bei den Samaritern (Apg 8,14-17)

Hier treffen wir auf Menschen, die die Voraussetzung für den Empfang des Geistes erfüllten: Sie glaubten an den Herrn Jesus Christus. Sie waren sogar schon getauft. Aber sie hatten den Heiligen Geist nicht.Erst als Petrus kam, betete und den Gläubigen die Hände auflegte, wurden sie mit dem Heiligen Geist erfüllt. Wie kann das sein?

Das ist wirklich anders, als es der Herr ankündigt. Wir beobachten, dass hier und auch in Apg 10 Petrus eine besondere Rolle spielt. Warum Petrus? Ihm ist auf sein Messiasbekenntnis hin eine „Schließfunktion“ zugesprochen. In Mt 16,18.19 wird ihm der „Schlüssel des Reiches der Himmel“ gegeben. In der Apostelgeschichte kann man beobachten, wie sich das auswirkt: Petrus hat das Vorrecht, die Tür des Evangeliums in den drei Volksgruppen „aufzuschließen“ – in Apostelgeschichte 2 bei den Juden, hier bei den Samaritern und schließlich in Apostelgeschichte 10 bei den Heiden. Das neue Zeitalter beginnt bei den Samaritern erst, als Petrus kommt.

Dritte Überraschung: Jünger – aber kein Heiliger Geist? (Apg 19,5.6)

Eine bemerkenswerte Sache wird uns aus Ephesus berichtet. Eine kleine, versprengte Gruppe von Johannesjüngern hatte hier, weit weg von Jerusalem, die Zeit überdauert. Irgendwie kamen sie mit Paulus in Kontakt. Paulus glaubt zunächst, „Jünger“ vor sich zu haben. Aber irgendetwas macht ihn misstrauisch und er erkundigt sich, ob sie den Heiligen Geist empfangen haben, als sie zum Glauben gekommen sind. Bemerkenswert ist, dass wir in der Fragestellung des Paulus genau die Linie wiederfinden, die der Herr angekündigt hatte: Zum Glauben kommen ? den Heiligen Geist empfangen. Das war hier nicht geschehen. Der Grund: Sie wussten noch nicht einmal, was oder wer der Heilige Geist überhaupt ist. Sie kannten nichts anderes als die Botschaft, die sie von dem Täufer gehört hatten. Paulus führte sie anhand der Bedeutung der Johannestaufe hin zu Jesus und dann folgte die Taufe mit dem Heiligen Geist.

Warum hatten sie den Heiligen Geist nicht? Ganz einfach: Sie glaubten noch nicht an Jesus als Retter. Es war einfach der Beginn ihres Lebens im Glauben und so ist es gut verständlich, dass sie den Heiligen Geist erst empfingen, als sie zum Glauben an Jesus Christus gekommen waren.

Versteht man die Ereignisse um den Empfang des Heiligen Geistes am Anfang der Apostelgeschichte nicht als Folge der Übergangssituation und der besonderen Funktion einzelner Personen, sondern als üblichen Ablauf, kommt man fast zwingend zu sehr speziellen Lehren um den Heiligen Geist, wie

  • der Taufe mit dem Geist als zweiter, von der Bekehrung unabhängiger Erfahrung.
  • der Lehre, dass der Heilige Geist durch irgendwelche Personen vermittelt wird.
  • der Idee, dass das Kennzeichen einer echten Geistestaufe die Sprachenrede ist. (Am Anfang war das für die Apostel auf jeden Fall ein Kennzeichen, dass ein Mensch zum Glauben gekommen war. Etwas später setzt Paulus aber eine andere Betonung, wenn es um die Frage geht, woran man eine Bekehrung erkennt: „Denn so viele durch den Geist Gottes geleitet werden, die sind Söhne Gottes“ (Röm 8,14).)

Das sind Lehren, die sich mit den Worten des Herrn und der sonstigen Lehre des Neuen Testaments nicht decken. Deshalb ist es bei dieser und einigen anderen Themen ratsam, die einmalige Situation des Übergangs vom jüdischen Kultus zur neutestamentlichen Gemeinde angemessen zu berücksichtigen.

2.  Die Häufung von Zeichen und Wundern in der Apostelgeschichte

Die Evangelien und die Apostelgeschichte sind geladen mit einer hohen Dichte außergewöhnlicher Zeichen. Die Häufung betrifft die Wirkungszeit des Herrn genauso wie das Pfingstereignis und die ersten Jahre (Jahrzehnte?) danach. Dann ebbt diese Welle auf ein „unauffälliges Niveau“ ab.

Es sind besonders drei Fragen interessant, auf die der Bibelleser Antwort sucht:

  1. Warum gibt es diese auffällige Häufung außergewöhnlicher Ereignisse?
  2. War der Rückgang zu erwarten?
  3. Was tut Gott heute?

Warum diese Wunderhäufung?

Die Schrift nennt uns mehrere Gründe für das Feuerwerk von Ereignissen, die die Beobachter – jedenfalls die meisten – mit Ehrfurcht erfüllte:

  1. Zuerst waren sie Messiaskennzeichen. Sie waren von den Propheten angekündigt worden und mehr als einmal ermahnt der Herr seine Kritiker, wenn sie schon seinen Worten nicht glauben, doch wenigstens die Zeichen als messianische Legitimation anzuerkennen. Auch Petrus verweist in seiner großen Pfingstrede auf „die Machttaten, Zeichen und Wunder“ (Apg.2,22), mit denen Gott seinen Sohn als Messias ausgewiesen hat. Sie waren der Nachweis, dass in Jesus Christus der erwartete Retter gekommen ist.
  2. Die Wunder waren gleichfalls Zeichen apostolischer Autorität. Manche Leute in Korinth dachten und redeten wohl etwas geringschätzig über Paulus und er erinnert die Gemeinde daran, dass in ihrer Mitte die „Zeichen des Apostels“ geschehen waren, und dann kommt die gleiche Aufzählung, wie sie Petrus in der Pfingstpredigt im Blick auf den Herrn erwähnte: „Zeichen und Wunder und Machttaten“ (2Kor 12,12).
  3. Die Entstehung der Gemeinde ist ohne die mächtigen Geisteswirkungen zum Pfingstfest und darüber hinaus gar nicht vorstellbar. Was sollten zwölf einfache Männer ohne Geld, ohne Lobby, ohne irgendwelche Mehrheiten, ohne politische und religiöse Macht, ohne Mikrofon und Lautsprecher ausrichten? Alle eigenen Mittel waren unzureichend. Deshalb greift Gott in das Geschehen ein und ruft die erste Gemeinde ins Leben. Es ist so ähnlich wie 1500 Jahre vorher beim Bundesschluss am Sinai. Auch dort, am Beginn eines heilsgeschichtlich neuen Zeitalters, sind die sicht- und hörbaren Manifestationen Gottes so mächtig, dass sich alle vor Ehrfurcht zurückziehen. Das blieb nicht so, genauso, wie es später nicht ständig auf dem Niveau der Pfingstereignisse blieb.
  4. Auch das ist noch zu nennen: Die Zeichen werden als Brücke verstanden zwischen dem Alten Testament und der Gemeinde. In den Zeichen erfüllen sich Worte der Propheten. So verweist Petrus darauf, dass jetzt geschieht, was durch Joel angekündigt wurde. Auch wenn eine neue Epoche anbricht, sind die Machttaten ein Zeichen von Kontinuität. Gott setzt seine Geschichte fort, und jeder, der es sehen will, kann es sehen.

War dieser Rückgang zu erwarten?

Ja, denn …

  • der Herr hatte es schon angedeutet. Im Gespräch mit dem Jünger Thomas (Joh 20,29) spricht er ein Prinzip an, welches ein Kernelement des Glaubens ist: Thomas wurde erst überzeugt, als er den Auferstandenen mit seinen eigenen Augen sah. Die Verheißung aber hat der Glaube, nicht das Sehen. Wir haben die Worte der Augenzeugen, das ist eine ausreichend gewisse Grundlage.
  • die Apostel – obwohl sie am Anfang mächtige Wundertäter waren – sind später überhaupt nicht irritiert, dass wichtige Mitarbeiter krank zurückgelassen werden müssen (2Tim 4,20) und selbst Apostel mit dauerhaften Leiden zu kämpfen haben.
  • der Schreiber des Briefs an die Hebräer, der ca. 35 Jahre nach den Pfingstereignissen geschrieben wurde, schaut auf die Wunder als Ereignisse des Anfangs zurück (Hebr 2,3+4). Er vermittelt nicht den Eindruck, als würden sich diese Phänomene im gleichen Maß fortsetzen.

Noch ein anderer Aspekt ist es wert, bedacht zu werden. Das ist kein biblisches Argument, aber ein sehr vernünftiges. Im Rahmen eines Hauskreises kamen wir auf ein ähnliches Thema zu sprechen und natürlich auch auf die Frage, ob Heilungen und andere Wunder heute in ähnlicher Weise zu erwarten sind. Einer der Teilnehmer, noch gar nicht lange gläubig, meinte: „Das wäre ja entsetzlich. Die Leute kämen nur in die Kirche, weil sie irgendwelche Defekte repariert haben möchten. Christen dürfen nicht gesünder sein als andere Leute auch.“ Das ist eine berechtigte Überlegung. Selbst in der frühen DDR-Zeit, als hier ab und zu freundliche Gaben aus dem Westen Deutschlands ankamen, waren Leute in den Gemeinden, die am Glauben eigentlich wenig Interesse hatten. Aber an den Paketen …

Was tut Gott heute?

Das ist keine Randfrage. Von der Antwort hängen Erwartungen und Einstellungen ab. Sie beeinflusst unser Beten und Glauben. Die hier beschriebene Position erhebt nicht den Anspruch auf letzte Einsicht, sie kann durchaus diskutiert werden.

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In der Graphik wird die rote Kurve zwar flach, aber sie erlischt nicht. Das ist aus mehreren Gründen so gezeichnet:

Es gibt nicht nur die „geistliche Großwetterlage“, wie wir sie in Europa kennen, mit der Geschichte der Reformation und einer breiten Verfügbarkeit geistlicher Wahrheiten. In anderen Regionen gibt es Auseinandersetzungen zwischen dem Evangelium und zum Teil mächtigen okkulten Kräften. Es geht um die Frage der Macht, und Gott wirkt in einer Weise, wie es nach Jahrhunderten des Einflusses des Evangeliums nicht zu erwarten ist.

Wenn suchende Menschen mit den ihnen verfügbaren Werkzeugen die Hürden zum Glauben nicht überwinden können, schaufelt der Herr gar nicht so selten auf höchst individuelle Weise den Weg zum Glauben frei. Fast in jeder zweiten Bekehrungsgeschichte von Muslimen spielen Träume, Visionen oder andere besondere Erfahrungen eine Rolle und sind ein Baustein, das Gefängnis ihrer Religion zu überwinden. Wer dagegen acht Jahre Kinderstunde und fünf Jahre Jugendgruppe erlebt hat, braucht auf solche Erfahrungen nicht zu warten.

Gelegentlich tut Gott „über Bitten und Verstehen“. Er erhört Gebete und manchmal geschehen wundersame Dinge, für die gar niemand gebetet hat.

Wir glauben keinesfalls, dass Gottes übernatürliches Eingreifen grundsätzlich erloschen ist, aber

  • wir gehen von einem prinzipiellen Unterschied zwischen der Anfangszeit und der Gegenwart aus. Die „Zeichen der Apostel“ sind Zeichen der Apostel, nicht der Christenheit.
  • wir rechnen nicht mit Wundergaben als frei verfügbare Machtwirkung.
  • wir kennen keinen Auftrag, das Wunder zu suchen, sondern das Ergebnis: Glauben wecken, im Glauben wachsen und im Glauben halten. Dabei erwarten wir, dass Gott Größeres und Anderes tun kann, als wir ihm vorschlagen.

Seit mehr als 100 Jahren wird unter Christen auch völlig anders argumentiert als in diesem Text beschrieben. Es gibt durchaus die Überzeugung, dass alle Phänomene der Apostelgeschichte und der frühen Christenheit zur Regel christlicher Existenz gehören sollten. Wenn sie fehlen, sei das lediglich Zeichen von Kleinglaube und Unglaube. Die Vertreter dieser Sicht argumentieren durchaus mit Worten der Heiligen Schrift. Eine Gesamtbetrachtung der Texte, der Heilsgeschichte und der Kirchengeschichte unterstützt dieses Verständnis meines Erachtens jedoch nicht.

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