Einer von uns

Joe Serena, US-amerikanischer Elite-Soldat der „Green Berets“, hatte bei drei Kampfeinsätzen in Afghanistan den Horror des Krieges am eigenen Leib erfahren, bis hin zu einer Begegnung mit einem Selbstmordattentäter, der in seiner unmittelbaren Nähe eine Bombe zündete. Splitter bohrten sich überall in Serenas Körper, schlugen ihm die Zähne aus.

Als 39-Jähriger quittierte Serena nach 18 Jahren den Dienst. Damit war er raus aus dem Krieg, aber der Krieg war nicht raus aus ihm. Albträume und Panikattacken quälten ihn Tag und Nacht. Er begann zu trinken, verstieß gegen Auflagen und landete schließlich vor Gericht.

Auf dem Richterstuhl saß Lou Olivera, ebenfalls ein ehemaliger Angehöriger der Streitkräfte. Da Serena ein Wiederholungstäter war, blieb dem Richter nichts anderes übrig, als ihn zu einer kurzen Gefängnisstrafe zu verurteilen. Dennoch eine Katastrophe für Serena. In der dunklen Zelle war er zurück in der Finsternis der Erlebnisse von Afghanistan. Die vier Wände weckten in ihm die schlimmsten Erinnerungen an die Enge der Räume und Gräben, die er im Krieg erlebt hatte.

Nach einer Stunde im Horror der Haft öffnete sich plötzlich die Zellentür. Herein kam Richter Lou Olivera, aber nicht in einer Robe, sondern – wie Serena – in Häftlingskleidung. Hinter im fiel die schwere Stahltür mit lautem Getöse ins Schloss. Der Richter, der die große Not des jungen Mannes im Gerichtssaal erkannt hatte, hatte sich entschieden und die Erlaubnis erhalten, mit dem Verurteilten die Zelle und sein Leid zu teilen.

Die beiden unterhielten sich stundenlang über ihren Dienst, ihre Familien, ihre Hoffnungen für die Zukunft. Um ein Uhr morgens hörte der Richter, wie Serana mit einem Mal, ruhig und entspannt atmend, in einen tiefen Schlaf gefallen war. Olivera lehnte sich zurück an die Wand der Zelle und erinnerte sich eines anderen leidenden Soldaten, der mit großen Augen gefragt hatte: „Warum bist du hierher zu mir in mein Loch gekommen?“ Und auf des Richters Lippen formte sich die damalige Antwort: „Ich bin gekommen, um bei dir in deiner Not zu sein und um dich herauszuholen.“ (1)

Mitten unter uns

Weihnachten ist die Zeit, in der wir uns erinnern, dass der allmächtige Gott Mensch wurde, um bei uns zu sein („Immanuel“ – „Gott mit uns“). Es ist die Zeit, in der wir uns erinnern, dass der heilige Gott in seinem Sohn Jesus in unsere Gefängniszellen der Sünde und in unsere Löcher des Elends kam, um uns von dort herauszuholen („Jesus“ – „Gott ist Rettung“).

Nur vier Wörter

Was aber bedeutete es für den Sohn Gottes, Mensch zu werden? „Die Menschwerdung war“, wie es John Witmer formuliert, „ein Herunterkommen, (ein) Abstieg.“ (2) Das ist keine vage Formulierung, sondern biblisch bestätigte Wahrheit. Der Schreiber des Hebräerbriefes bringt es auf den Tiefpunkt: „Wir sehen aber Jesus, … erniedrigt.“ Und Paulus ergänzt: „Jesus Christus machte sich selbst zu nichts und erniedrigte sich selbst“, „der, der reich war, wurde arm“. (3) Das ist in jeder Beziehung ein Herunterkommen, ein Abstieg, ein Gang ins Nichts.

Die ganze Dramatik, die Wucht des weihnachtlichen Geschehens, liegt gebündelt in den nur vier Wörtern: „In einer Krippe liegend“. (4) Der Höchste, absolut erniedrigt – „in einer Krippe liegend“. Der ewig Seiende, zu nichts gemacht – „in einer Krippe liegend“. Der Reiche, arm geworden – „in einer Krippe liegend“. (5) Diese Feststellung wird durch drei weitere Wörter ergänzt: „in Windeln gewickelt“. Warum gerade der Hinweis auf die Windeln? Weil die Windeln das gesamte Ausmaß der Menschwerdung symbolisieren. Weil das Baby in der Krippe, ebenso wie jedes neugeborene Menschlein, Windeln benötigt. (6) Mehr Menschsein geht nicht!

Freiwillige Selbsterniedrigung

Das war kein Zufall. Der Höchste, der ewig Seiende, der Reiche erniedrigte sich freiwillig, ohne Zwang. Als Gott in der Vorewigkeit nach einem Retter suchte, rief der Sohn: „Hier bin ich, sende mich.“ (7) Schon damals sah er uns, und „seine Wonne war bei den Menschenkindern“. (8)

Gleichzeitig wusste der Schöpfer des Universums genau, was es für ihn bedeuten würde, Geschöpf zu werden. Er, der vollkommene Gott, wusste, was ihn als vollkommener Mensch erwartete, aber er kam dennoch, „wurde Fleisch und wohnte unter uns“. (9)

Last der Leiden von Bethlehem bis Golgatha

Schon bevor er geboren wurde, litt er. Noch im Mutterleib der Maria bekam er den Stress der Reise nach Bethlehem mit, hörte den Knall der Herbergstür, als wolle man ihm, bevor er überhaupt geboren war, bereits den Eingang in die Welt vermauern. Er wird unter Schmerzen geboren und landet in einer harten Krippe, umgeben vom Gestank des Stalls. Nur kurz darauf wird er zu einem Flüchtlingskind.

Er muss alle Stufen des Erwachsenwerdens durchlaufen, geht wie alle Teenager in eine Lehre, lebt in ärmlichen Verhältnissen in Nazareth. Er hat Hunger und Durst. Er hat oft kein Dach über dem Kopf, obwohl die von ihm geschaffenen Vögel in Nestern ruhen und die Füchse in Höhlen schlafen. Er ist nach des Tages Lasten müde und von seinen Diensten vielfach erschöpft. Er wird von den Mächten der Finsternis attackiert und versucht. Keine seelische Not ist ihm fremd. Er weint, er trauert, aber er freut sich auch und singt und jubelt. Dann wieder ist er bestürzt über die Sünde und ihre Auswirkungen. Er ist bewegt über den Herzenszustand der Menschen. Es greift ihn innerlich an. Er wird missverstanden, beschimpft, verflucht. Er wird beleidigt und belogen, verhaftet und gefoltert. Er wird gekreuzigt. Er, das Leben, stirbt.

Obwohl er in alledem doch Gott war, „setzte Jesus niemals seine Göttlichkeit ein, um sich selbst das Leben leichter zu machen“. (10) Er hätte jederzeit entfliehen können. Er tat es nicht. Er wollte und „er musste uns in allem gleich werden, um unsere Sünden zu sühnen“. (11) Er trug – wie jeder Mensch – die Last der Leiden. Und weil er sich so gänzlich dem Menschsein aussetzte, versteht er uns auch wie kein anderer!

Vom Himmel hoch, da komm ich her

Wir treten ein in den Stall von Bethlehem. Wir sehen Jesus, Gott und Mensch zugleich, „in einer Krippe liegend“ und er-greifen und be-greifen mehr und mehr, warum er alle Tiefen einer menschlichen Existenz annahm. Das muss Liebe sein! Es kann nur Liebe sein! (12) Aus Liebe zu dir und aus Liebe zu mir. Nichts konnte seine Liebe aufhalten, sie überfluten oder auslöschen. (13) Er trug die Bürde der Menschwerdung und des Menschseins gerne, er trug sie gehorsam, er trug sie klaglos, er trug sie bis zum erlösenden Ende!

Unsere Blicke erheben sich von der harten Holzkrippe in Bethlehem zum rauen Holzkreuz auf Golgatha. Wir sehen ihn nicht mehr „in einer Krippe liegend“, sondern „an einem Kreuz hängend“. Mit den Hirten und den Weisen fallen wir auf die Knie und singen anbetend:

„Uns ist ein Kindlein heut’ gebor’n,
von einer Jungfrau auserkor’n;
das Kindelein so zart und fein,
das soll unser Freud’ und Wonne sein.

Bist willkommen, du edler Gast!
Den Sünder nicht verschmähet hast
und kommst ins Elend her zu mir,
wie will ich immer danken dir!“ (14)

Quellenangaben:

  1. Kiener, Robert: „An Army of Two“. In: Reader’s Digest. Harlan, Iowa: April 2018, pp. 70-77.
  2. Witmer, John A.: „Immanuel – Wahrer Gott und wahrer Mensch“. Christliche Verlagsgesellschaft, Dillenburg: 2007. S. 117-136.
  3. Hebräer 2,9; Philipper 2,6.7; 2. Korinther 8,9
  4. Lukas 2,12
  5. Schaffer, Dan: „The Real Gift of Christmas“. RBC Ministries, Grand Rapids, Michigan: 2013, S. 6-14.
  6. Müller-Hansen, Melitta: „Gott in uns“. In: Figuren der Weihnacht. Evangelischer Presseverband, Bayern. Sonntagsblatt-Thema: Ausgabe 6/2010, S. 17.
  7. Jesaja 6,8; Psalm 40.8.9; Hebräer 10,7
  8. Sprüche 8,31
  9. Johannes 1,14
  10. a. a. O., Witmer, John A., S. 130.
  11. Hebräer 2,17.18
  12. Wellenkötter, Thorsten: „Gott muss Fantasie haben. Er wurde Mensch“. In: „Vivat! Das Magazin für Christen“. St. Benno Verlag, Leipzig: Ausgabe Advent 2016, S. 15.
  13. Hohelied 8,6.7
  14. Luther, Martin: „Vom Himmel hoch da komm ich her“. Von Martin Luther 1535 zur Weihnachtsbescherung für seine Kinder gedichtet.

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