Das Wunder der Wende

Fahnenappell. In einem ordentlichen Rechteck standen die Schüler der Polytechnischen Oberschule „Thomas Müntzer“ um den Fahnenmast: Ansprachen, politische Erklärungen und Grüße. „Pioniere der Pionierorganisation Ernst Thälmann: Seid bereit!“, so rief ein Funktionär, und rings um mich hoben die Schüler ihre Hand und riefen: „Immer bereit!“ Außer einer Handvoll junger Leute, die nicht mit weißer Bluse und blauem Halstuch hier standen. „Die Mitglieder der Freien deutschen Jugend (FdJ) grüßen mit Freundschaft!“ Laut scholl die Antwort über den Schulhof: „Freundschaft.“ Und wieder waren es verschwindend wenige, die stumm blieben.

Für uns hatten anfangs die Eltern diese Entscheidung übernommen. Und so blieb ich den Pioniernachmittagen und vielen spannend klingenden Veranstaltungen fern. Der Arbeiter- und Bauernstaat wusste, dass man Kinder schon frühzeitig in Kinderkrippe, Kindergarten, Schule, Hort und Nachmittagsangeboten prägen kann. Es war eine weise Entscheidung unserer Eltern, die Einflüsse des Staates so gering wie möglich zu halten. Diese persönliche Verantwortung bleibt auch heute. Wer erzieht die Kinder? Welches Ziel sollte die Erziehung haben (Spr 22,6)? Auch heute ist es dran, dem Weg gemäß zu erziehen: die Dinge einzuschränken, die hindern, und die zu fördern, die dem Ziel der Erziehung dienen. Dieser hohen Verantwortung müssen wir uns als Eltern stellen.

Allerdings blieb diese Entscheidung nicht unangefochten. „Du kannst doch auch bei den Pionieren mitarbeiten und Christ sein. Sieh mal, die … machen doch auch mit!“ Mein Direktor hatte ein gute Gelegenheit abgepasst, um mir diese Frage zu stellen. Wie weit durfte man gehen? Wer die Gebote der Jung- und Thälmannpioniere (FdJ) und deren Gelöbnis nachliest, findet neben den guten Dingen eben auch die Bereitschaft zum Kampf für die Ziele des Sozialismus. Ist dies mit dem Glauben an den Herrn Jesus vereinbar? Musste man dies ablehnen und dafür Nachteile in Kauf nehmen, oder konnte man dabei sein? Nicht immer sind heute die Entscheidungen so einfach. Welches Hobby, welche Freundschaft und welcher Zeiteinsatz für welche Organisation sind noch dran?

Geblieben ist, dass wir nicht zwei Herren dienen können (Mt 6,24). Hierbei galt es auch, die unterschiedliche Sichtweisen der Geschwister zu akzeptieren, deren Kinder Mitglied dieser Organisationen waren. Mit kritischen Fragen versuchten die Funktionäre, diese Unterschiede zu nutzen, um uns zu verunsichern und einen Keil zwischen uns Christen zu treiben. Machtlos waren sie gegenüber der Klarstellung, dass wir in allen grundlegenden Dingen übereinstimmen und es in manchen Dingen Freiheit und persönliche Verantwortung Gott gegenüber gab. Diese Freiheit kannten die Funktionäre nicht. Aber gerade dies schweißte uns zusammen. Jetzt ist der Teufel ebenso unterwegs, seine Absichten sind uns aber nicht unbekannt. Ich möchte daraus lernen, dass er schon viel gewonnen hat, wenn er es schafft, dass sich die Kinder Gottes gegenseitig verachten oder als Feinde betrachten (Phil 2,3).

Zu den Anfechtungen kam auch das öffentliche Stillschweigen: Die „Urkunde für gutes Lernen in der sozialistischen Schule“ hatte ich nun wirklich verdient. Sie wurde in Anwesenheit aller Schüler der gesamten Schule verliehen. Dennoch – ich wurde nicht aufgerufen, obwohl alle meine Noten dafür sprachen. Das war ungerecht! Jahre später teilte mir eine Verantwortliche mit, dass die Kopfnoten bei mir so angepasst wurden, dass mir diese Urkunde verweigert werden konnte.

Ehre ist ein „wunderbares“ Zugmittel. Sollte man nicht zeitig genug lernen, dass alle Ehrungen dieser Welt, seien sie in der Musik, im Sport, im Beruf, von Geschwistern oder sogar aus der Gemeinde, nur zeitlich begrenzt sind und selten Ewigkeitswert haben? Wenn uns die Ehre des EINEN lieber ist, können wir ganz ungezwungen einen guten Weg in der rechten Beziehung zu den Mitmenschen, Geschwistern und Systemen gehen (Joh 12, 26b). Vielleicht bewahrt uns das auch in den Gemeinden?

Irgendwann hielt ich sie dann doch in der Hand – die Lessingmedaille in Gold als besondere Auszeichnung nach Abschluss der POS. Diese bahnte eigentlich den Weg zu Abitur und Studium – aber nicht für mich. Aufgrund meiner Ablehnung der Teilnahme am militärisch-politischen Ausbildungslager war sie nur eine Farce, denn ich bekam keine Delegierung zum Abitur. Eventuell wäre eine Berufsausbildung mit Abitur möglich. Ein Weg, den viele andere vor mir schon gegangen waren, die auf ihr Studium verzichtet hatten. Doch Gott hatte eine besondere Gnade für mich bereit. Ich unterschrieb meinen Ausbildungsvertrag, aber kurz darauf überstürzten sich die Ereignisse: Zwei Monate später vereinigten sich die beiden deutschen Länder, mein Ausbildungsbetrieb meldete Insolvenz an. Dieser Einschnitt führte mich zunächst an ein naturwissenschaftliches und dann an ein allgemeinbildendes Gymnasium.

Wie genial agierte mein himmlischer Vater durch alle politischen Wirrnisse hindurch in meinem Leben! Ohne den Mauerfall und die folgende Wiedervereinigung hätte ich sicher dieses Abitur und mein Studium nicht abschließen können. Wie anders wäre mein Leben verlaufen! Welch enorm positiven Anstoß bekam mein Leben durch Mauerfall und Wiedervereinigung.

Dennoch – die Schwierigkeiten bleiben, in persönlicher Abhängigkeit vor Gott den Weg zu gehen, den er möchte. Mainstream, Gruppenzwänge, Ehrsucht, Beeinflussungen von politischer und christlicher Seite her gibt es vielfältig. Wenn wir Möglichkeiten schaffen, dass geistliche Persönlichkeiten in den Gemeinden reifen, die gelernt haben, am Wort Gottes zu entscheiden und sich danach auszurichten, wird es Gemeinden positiv beeinflussen. Es lohnt sich, besonders junge Menschen in diesen Bereichen zu schulen, zu fördern und zu prägen.

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