Das Reich Gottes – wie die Apostel es verstanden (Teil 1)

Zwischenfazit von Teil 1

Reich Gottes heute – wie lehrt und lebt man das?

Ist das Thema so unwesentlich, wie sein seltenes Erscheinen in der Literatur der Brüderbewegung vermuten lässt? Sind die allergischen Reaktionen mancher Geschwister gerechtfertigt, wenn von dem Herrn Jesus zweimal zuviel als „König“ geredet oder gesungen wurde? Oder ist auf der anderen Seite die Begrifflichkeit vom „Reich“ Grund genug, um einen Paradigmenwechsel, eine völlige Neuorientierung unserer Grundüberzeugungen einzuleiten1? Ist es vielleicht doch unsere Aufgabe, die Gesellschaft zu verändern und für die Ankunft des Königs vorzubereiten?

Der folgende Artikel will keine allumfassende Antwort auf sämtliche Aspekte einer Reichs-Gottes-Theologie geben. Es soll um genau eine Frage gehen: Wie haben die Apostel das Reich Gottes verstanden, gelehrt und gelebt? Es gibt heute verschiedene, z.T. miteinander konkurrierende Erklärungsmodelle, wie Gott sich das mit seinem Reich wohl gedacht hat. Wie genau die entsprechenden Gleichnisse von Jesus zu interpretieren sind, darüber gibt es unterschiedliche Auffassungen unter den Auslegern. Aber an dem, was die Apostel nach der Auferstehung Jesu mit seinen Gedanken zu dem Thema taten, müsste man eigentlich ablesen können, wie SIE es damals verstanden haben und wie wir es folglich auch heute noch verstehen und leben sollen.

Der Fokus des Herrn Jesus für seine Jünger

Der Bericht des Lukas über die Ausbreitung des Evangeliums zur Zeit der ersten Gemeinden beginnt mit einem Rückgriff auf die vierzig Tage zwischen Auferstehung und Himmelfahrt des Herrn Jesus. Dieser hatte noch einmal knapp sechs Wochen Zeit, um seinen Gesandten – angesichts des bevorstehenden Beginns von Gemeinde und Mission! – das zu erklären, was für ihre zukünftige Arbeit von ultimativer Wichtigkeit sein würde. Worum ging es ihm? Lukas fasst es so zusammen: „… er redete über die Dinge, die das Reich Gottes betreffen“ (Apg 1,3).

Aus den Evangeliumsberichten wissen wir, dass der Herr ihnen half, IHN selber zu erkennen (Luk 24,25ff; Joh 21), wie er mit Tod und Auferstehung die Schriften bestätigt hatte und dass nun „in seinem Namen Buße zur Vergebung der Sünden gepredigt werden müsse allen Nationen“ (24,46f). Er sprach von seiner Allmacht und Allgegenwart und dem Auftrag, in aller Welt getaufte und gehorsame Jünger zu machen (Mat 28,18-20; Mk 16,15f). Das Wort würde erkennbare Wirkung entfalten (Mk 16,17ff). Ausdrücklich Bestandteil dieser Gespräche war der Heilige Geist und dass sie in aller Welt Zeugen Jesu sein würden (Luk 24,48f; Joh 20,21ff; Apg 1,4-8).

Ihre bisherige, beschränkte Erwartung des Reiches Gottes als einer irdischen Herrschaft Israels wurde auf einen unbestimmten Zeitpunkt verschoben (Apg 1,6-7), diese Variante des Reiches sollte die Jünger im Moment nicht beschäftigen. Und doch lag das Hauptaugenmerk des Herrn für seine Jünger in seinen letzten Begegnungen auf „den Dingen des Reiches Gottes“. Es muss in seinen Augen für sie von zentraler Bedeutung gewesen sein.

Reich Gottes und Jesus Christus

Nachdem sich in den folgenden Kapiteln vieles von dem entfaltete, was der Herr Jesus mit seinen Jüngern unter der Überschrift „Reich Gottes“ besprochen hatte, liefert uns Lukas in Kapitel 8 den nächsten Hinweis, was die ersten Christen darunter verstanden. „Philippus aber ging hinab in eine Stadt Samarias und predigte ihnen den Christus“ (v.5). Begleitend geschahen einige der Zeichen, die der Herr in Mk 16 angekündigt hatte. In Vers 12 wird das Gleiche folgendermaßen beschrieben: Philippus hatte „das Evangelium vom Reich Gottes und dem Namen Jesu Christi verkündigt“. Wir erfahren nicht viele Details, aber eins ist klar: Das Evangelium der ersten Christen hatte den Herrn Jesus im Zentrum – und das Thema „Reich Gottes“ gehörte dazu. Es war EIN Evangelium.

Unsichtbar – und doch mächtig

Noch eins wird im Neuen Testament übrigens immer wieder wichtig: für die ersten Christen bestand Evangelisation nicht nur aus wahren Worten. Wie später bei Paulus in Thessalonich „erging das Evangelium an (sie) nicht im Wort allein, sondern auch in Kraft und im Heiligen Geist und in großer Gewissheit“ (1Thes 1,5). Die gute Botschaft, die verkündigt wird, stammt von dem, der nicht nur „die Wahrheit“, sondern auch „das Leben“ ist. Da, wo die Boten dieses lebendigen Siegers dienen und predigen, da entfaltet sich seine Wirkung – etwas von diesem unsichtbaren Reich wird spür- und erkennbar.

Hoffnung!

In Kapitel 14 erwähnt Lukas dann zum ersten Mal die bereits aus den Evangelien bekannte zukünftige Dimension des Reiches Gottes. Am Ende seiner ersten Missionsreise besucht Paulus mit seinem Team noch einmal einige der kurz vorher gegründeten Gemeinden und stärkt sie in ihrem jungen Glauben u.a. mit dem Hinweis, „dass wir durch viele Bedrängnisse in das Reich Gottes hineingehen müssen.“ (v.22) Die Hoffnung auf die Rettung im künftigen Reich sollte den jungen Geschwistern Kraft für ihre aktuellen Schwierigkeiten geben.

„Unser König!“

In Kapitel 17,7 werden einige junge Gläubige von den wütenden Juden angeklagt, sie würden Jesus als „König“ bezeichnen. Schon in Kap. 4,24 redet die Gemeinde in Jerusalem Gott mit einem ähnlichen Titel an: „Herrscher“. Weitere Hinweise darauf finden sich in der Apostelgeschichte nicht. Die Terminologie des Reiches Gottes schien also nicht alles andere zu übertönen, gehörte aber offenbar dennoch zum normalen Wortschatz der ersten Christen.

Das Reich Gottes und seine Folgen

Letzteres war auch zu erwarten, wenn man sich den bewussten Umgang ihres großen Vorbildes mit diesem Thema anschaut. Kapitel 19,8 beschreibt, dass Paulus in dreimonatigen Unterredungen die Juden in Ephesus „von den Dingen des Reiches Gottes überzeugte“. Was passiert daraufhin?

  1. V.9: Die ihn ablehnten, redeten anschließend „schlecht von dem Weg“ – also nicht von der jüdischen Heilshoffnung, sondern vom christlichen Bekenntnis (Apg 18,25.26; 22,4; 24,14.22).

  2. V.9+18 (auch Kap.20,1): Viele kamen zum Glauben und wurden Jünger = Nachfolger des Herrn.

  3. V.10: „Das Wort des Herrn“ (s.a. V.20) breitet sich innerhalb von zwei Jahren in der ganzen Provinz aus. Es erreichte nicht nur Juden, sondern ausdrücklich ebenso Menschen anderer Nationalitäten („Griechen“). Viele Ausleger gehen davon aus, dass in dieser Zeit die Gemeinden Smyrna, Pergamon, Thyatira, Sardes, Philadelphia und Laodizea gegründet worden sind (s. Offb 2+3).

  4. V.11ff: Wieder erweist sich das Evangelium als mächtig: Kranke werden geheilt und Dämonen ausgetrieben. Einige jüdische Nachahmer versagen kläglich. Das fördert Gottesfurcht und Gottes Ehre.

  5. V.18f: Viele Menschen taten Buße und brachen öffentlich mit ihrer Vergangenheit. Wirklich: „Das Wort des Herrn wuchs mit Macht und erwies sich kräftig.“ (v.20)

  6. V.23ff: Herrschende Denkschemata werden in Frage gestellt. Das führt hier nicht erkennbar zu einer tatsächlichen Gesellschaftsveränderung, aber das Reich der Finsternis rührt sich – die Gilde der heidnischen Andenkenproduktion wehrt sich gegen die absatzschädigende Behauptung von Paulus, ihre kleinen Figuren seien keine Götter. Paulus hatte es gar nicht darauf angelegt, die angestammte Religion oder irgendeine heidnische Institution zu bekämpfen – der Stadtschreiber bestätigt ihm ausdrücklich, dass „diese Männer weder Tempelräuber sind noch unsere Göttin lästern“ (v.37). Und obwohl die Veränderung der Gesellschaft nirgendwo als ausdrückliches Ziel von Paulus zu erkennen ist, fühlt sich die Gesellschaft dieser Stadt durch das veränderte Denken dieser „großen Volksmenge von ganz Asien“ (v.26) herausgefordert.

Reich Gottes und Evangelium der Gnade

Wenn Paulus im nächsten Kapitel auf seine Arbeit in Ephesus zurückschaut, dann beschreibt er den Inhalt seiner Predigt mehrfach. Er hat „nichts zurückgehalten von dem, was nützlich ist“ (v.20) und es öffentlich und in den Häusern verkündigt und gelehrt. Er hat „sowohl Juden als auch Griechen die Buße zu Gott und den Glauben an unseren Herrn Jesus Christus bezeugt“ (v.21). Er hat „das Evangelium der Gnade Gottes bezeugt“ (v.24) und ihnen „den ganzen Ratschluss Gottes verkündigt“ (v.27). Das hört sich ganz nach dem an, was wir von ihm aus seinen Briefen kennen. Interessanterweise lautet die fünfte Zusammenfassung seiner Arbeit: „Ich bin unter euch umhergegangen und habe das Reich gepredigt.“ (v.25) Für ihn war das „Reich Gottes“ eine ebenso treffende Zusammenfassung seiner Botschaft, wie das „Evangelium der Gnade Gottes“. Und es hatte für ihn nicht speziell mit Israel zu tun, er hat gleichermaßen zu Juden wie auch zu Heiden geredet (v.21).

Was bleibt …

Als Paulus schlussendlich in Kapitel 28 in Rom angekommen war, traf er sich mit einigen jüdischen Führern in seiner Herberge, „denen er das Reich Gottes auslegte und bezeugte“ (v.23). Was war dabei sein Anliegen? „Er suchte sie zu überzeugen von Jesus, sowohl aus dem Gesetz Moses als auch den Propheten.“ Es ging um „das Heil Gottes, das den Nationen gesandt ist“ (v.28). Ja, er sprach hier zu Juden. Und deswegen starteten seine Erklärungen auch im Alten Testament – aber sie drehten sich nicht etwa um die Zukunft Israels, sondern waren klar christozentrisch und hatten die Weltmission zum Anliegen.

Und noch einmal weiter unten betont Lukas, wie selbstverständlich der Apostel vom Reich Gottes sprach und was ihm dabei wichtig war: „Er predigte das Reich Gottes und lehrte die Dinge, die den Herrn Jesus Christus betreffen, mit aller Freimütigkeit ungehindert.“ (v.31) Das ist die Zusammenfassung der letzten zwei Jahres seines Dienstes, von denen wir wissen. Das ist gleichzeitig das Schlusswort, mit dem Lukas seinen Bericht der Taten des Heiligen Geistes mit den Aposteln beendet. Dem musste oder wollte er keine weiteren Erklärungen beifügen. Das sollte seinen Lesern im Gedächtnis bleiben.

Was bleibt den Zuhörern im Gedächtnis, wenn sie in unseren Gemeinden zwei Jahre zugehört haben? Wäre das Thema des Reiches Gottes so prominent, dass es in der Zusammenfassung auftauchen würde?

Aber vielleicht müssen wir erst eine andere Frage klären: SOLL das Reich Gottes heute in Verkündigung und Leben denn noch solch eine Rolle spielen? Schließlich können wir doch aus den BE-schreibenden Texten der Apostelgeschichte keine Lehren ziehen, die eventuell den VOR-schreibenden Texten der Briefe widersprechen. – Stimmt. Deswegen werden wir in Teil zwei dieses Artikels die 17 Stellen untersuchen, an denen in den Büchern nach der Apostelgeschichte vom „Reich“ die Rede ist.

Als Zwischenfazit möchte ich an dieser Stelle folgendes festhalten:

Wir verstehen und kommunizieren das Reich Gottes so, wie die Apostel es taten, wenn …

  • wir seine sichtbare Aufrichtung Gott und seinem Zeitplan überlassen

  • wir treu und weltweit Zeugen Jesu sind

  • Jesus Christus und seine „Dinge“ im Zentrum stehen

  • wir Buße zur Vergebung der Sünden predigen

  • der Heilige Geist und seine vielfältigen Wirkungen eine spür- und sichtbare Rolle spielen

  • unser Verständnis vom Reich Gottes eine gegenwärtige und auch eine zukünftige Dimension hat

  • wir aktuell durchaus noch mit Schwierigkeiten und Verfolgung rechnen

  • uns die Hoffnung auf die künftige Königsherrschaft Gottes tröstet

  • wir Gott sowohl als Schöpfer, Vater und Hirten und seinen Sohn als Erlöser, Herrn und Christus begreifen, wir uns aber auch als Untertanen eines Herrschers und Königs sehen, den wir u.a. auch so anreden können

  • das für uns gleichbedeutend damit ist, den „ganzen Ratschluss Gottes“ (AT, Evangelien und Briefe) oder schlicht „das Wort des Herrn“ vorzuleben und zu verkündigen

  • die Zuhörer Jünger Jesu werden und beginnen, ihm zu gehorchen

  • … oder es Widerstand gibt, weil Menschen sich und ihr Denken in Frage gestellt sehen

  • das Wort des Herrn sich ausbreitet und mächtig erweist

  • unsere Worte für Juden und Heiden gleichermaßen gelten

  • es selbstverständlicher Bestandteil unseres Denkens und Redens geworden ist

An was die Apostel offensichtlich nicht dachten

  • Wir finden in der Apostelgeschichte keine Fokussierung der Rede vom Reich Gottes auf Israel. Im Gegenteil, „Reich Gottes“ ist Thema von Kapitel 1 bis 28, von Jerusalem bis Rom, quer durch alle Provinzen, und es wird Juden und Heiden gepredigt – selbst vom „Apostel der Heiden“.

  • Die Rede vom Reich Gottes wird auch nicht etwa schwächer, sie bleibt eine legitime und passende Beschreibung dessen, was Paulus bis an sein Ende weitergab – im Schlussakkord betont der Heilige Geist es noch einmal ausdrücklich.

  • Auf der anderen Seite entdeckt man in der Apostelgeschichte nirgendwo, dass die Rede vom Reich Gottes das Denken der Apostel auf gesellschaftliche oder politische Themen gelenkt hätte. Nirgendwo wird Paulus aktiv für ein Heilwerden der Beziehung des Menschen zur Natur, selbst gegen die allgegenwärtige und himmelschreiende Ungerechtigkeit der Sklaverei tut er nichts. Nirgendwo verschiebt sich sein Fokus weg von seiner Arbeit, das Evangelium zu verkündigen, Menschen mit seinen Gaben zu dienen, Jünger zu machen und Gemeinden zu gründen.

Aber vielleicht wird das Bild ja noch korrigiert, wenn wir anfangen, die Briefe dazu zu lesen …

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1  So beschreiben es T.Künkler, T.Faix und A.Bachmann in „Emerging Church verstehen. Eine Einladung zum Dialog“ (2012) ab S.54

 

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