Das erste Weihnachtslied

Es schien ein Tag wie jeder andere zu sein. Es sollte ein Tag wie kaum ein anderer werden. Aus den Weiten der Ewigkeit sandte Gott seinen Boten Gabriel in das kleine Städtchen Nazareth in Galiläa zu einer jungen Frau namens Maria. Die hehren Worte der himmlischen Erscheinung – „Gegrüßt seist du, Holdselige! Der HERR ist mit dir, du Gesegnete unter den Frauen!“ – erschrecken und verwirren Maria so sehr, dass der Engelsfürst ihr als Nächstes erst einmal ein trostvolles „Fürchte dich nicht, Maria!“ zurufen muss.

Sie, die unbedeutende junge Frau, wird mit Namen angesprochen. Nun gibt es keinen Zweifel mehr. Maria ist tatsächlich gemeint. Und dann hört sie die Worte, die von jetzt an ihr gesamtes Leben und das von Millionen und Abermillionen von Menschen, verändern werden: „Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, und du sollst seinen Namen Jesus (Retter) heißen.“

Das Magnifikat der Maria

Unmittelbar nach der Verkündigung durch Gabriel macht sich Maria auf den Weg ins Gebirge zu ihrer schwangeren Verwandten Elisabeth. Während des Besuchs dort stimmt sie einen Lobgesang an, der als das „Magnifikat der Maria“ (von „magnifikat anima mea dominum“ – „Meine Seele preise den HERRN“ ) in die Kirchengeschichte eingegangen ist.

Von Maria sind uns nur wenige Worte im Neuen Testament überliefert (Lukas 1 und 2; Johannes 2,3.5), wovon sich die weitaus meisten in ihrem Magnifikat in Lukas 1 finden. Marias Magnifikat zeugt von einer tiefen Schriftkenntnis. Es ist ein einziges Spiegelbild alttestamentlicher Zitate. Die junge Frau hat sich offenbar bestens in den Büchern des Alten Testaments ausgekannt. Sie kann gar nicht mehr anders, als ihr Lob (angesichts der angekündigten Geburt des kommenden Retters) in die Welt hinaus zu singen. Ihr Lied ist gewissermaßen das erste aller Weihnachtslieder, das Ur-Weihnachtslied.

Marias Lied hat drei Strophen. In der 1. Strophe steht der Lobpreis (Magnifikat) für die persönlich erfahrene Gnade Gottes im Mittelpunkt. Die 2. Strophe ist ein Lobpreis (Magnifikat) der Allmacht Gottes. Die 3. Strophe schließlich hat den Lobpreis (Magnifikat) der Treue Gottes seinem Volk gegenüber zum Thema.

Strophe 1 – Magnifikat der göttlichen Gnade

„Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes; denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder. Denn er hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist und dessen Name heilig ist. Und seine Barmherzigkeit währet für und für bei denen, die ihn fürchten.“ (Lk 1,46-50)

Marias Seele preist Gott als ihren persönlichen Heiland („mein Heiland“), gefolgt von einer dreifachen Begründung, warum sie den Höchsten lobend besingt (1,48-49):

  1. Denn Gott hat hingeblickt auf die Niedrigkeit seiner Magd.“
  2. Denn siehe, von nun an werden mich glücklich preisen alle Geschlechter.“
  3. Denn Gott hat große Dinge an mir getan.“

Maria glaubte nicht von sich selbst, dass sie etwas sei, sondern sah sich in der unbedeutenden Rolle einer Dienerin.  In der Erkenntnis ihres Nichts-Seins vor Gott war sie sich der Notwendigkeit der Zuwendung eines persönlichen Heilands offenbar sehr wohl bewusst.

Strophe 2 – Magnifikat der göttlichen Allmacht

„Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.“ (Lk 1,51-53)

In der zweiten Strophe ist Gottes Allmacht Anlass der Anbetung. Dazu werden immer wiederkehrende Verbvariationen verwendet, die Gottes souveränes Handeln beschreiben: „Er übt …, er erhebt …, er füllt …, er lässt …, er gedenkt …, er hilft … .“

Gottes Macht im Handeln zeigt sich hier vor allem in der Umkehrung von Gegensätzlichkeiten: Mächtige (Herrscher Roms) müssen den Weg nach unten antreten, Geringe (Maria) werden erhöht. Hungrige werden gesättigt und beschenkt (Hirten), Reiche gehen leer aus (Herodes). Hochmütige werden beschämt (Pharisäer und Schriftgelehrte), Demütige sehen sich angenommen (Weise aus dem Morgenland).

Strophe 3 – Magnifikat der göttlichen Treue

„Er gedenkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf, wie er geredet hat zu unsern Vätern, Abraham und seinen Nachkommen in Ewigkeit.“ (Lk 1,54.55)

Die dritte Strophe rühmt Gottes Treue seinem Volk gegenüber. Gott vergisst sein Volk nicht. Er hält sich an seine Zusagen und Verheißungen. In der Nacht der ersten Weihnacht war „die Fülle der Zeit gekommen, in der Gott seinen Sohn sandte, geboren von einer Frau [Maria]“ (Gal 4,4), um alle seine Verheißungen an die „Väter“ Wirklichkeit werden zu lassen. Die Juden, Gottes Volk, durch die Herrschaft der Cäsaren verachtet und unterdrückt, werden durch das Kommen des Sohnes Gottes Ströme der „Barmherzigkeit“ fließen sehen und himmlische „Annahme“ erfahren.

Der seit Jahrtausenden verheißene Retter, der Heiland, kommt endlich! Maria, die in den Zusagen des Alten Testaments lebte, kann gar nicht anders, als vor dem Hintergrund der sich nun erfüllenden Worte der Propheten und der demütigen Erkenntnis, dass sich Gott ihrer, der unwürdigen Magd, bedient, um seinen Plan umzusetzen, in Frohlocken und Lobpreis auszubrechen.

Zukunft als Vergangenheit

Beim gesamten Magnifikat ist bezeichnend, dass Maria weitgehend in der Vergangenheitsform spricht, obwohl zahlreiche ihrer Aussagen einen zukünftigen Charakter haben. Durch die Verwendung der Vergangenheitsform wird unterstrichen, dass Gottes Heilsplan – selbst wenn zum Zeitpunkt des Magnifikats elementare Teile noch auf ihre Erfüllung warten – für Gott schon (Heils-) Geschichte ist. So sicher sind die Geburt des Erlösers und sein Werk der Errettung, dass sie als zwar erst noch kommende Ereignisse, trotzdem aber als schon geschehen und erfüllt beschrieben werden.

Weihnachtslieder

Wenn in diesen Tagen die alten Lieder neu erklingen, können wir von dem über 2000 Jahre alten ersten Lied der Weihnacht viel lernen. Vom Hinblicken Gottes auf unsere Niedrigkeit, von der uns erwiesenen Barmherzigkeit im Sohn, von dem gesandten Erretter, durch den der Allmächtige große Dinge an uns getan hat. In dankbarer Weihnachtsfreude dürfen wir einstimmen in das Magnifikat der Maria und anbetend mitsingen:

„Meine Seele erhebt den HERRN, und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilands.“

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