Auf der Durchreise nach Hause

Unsere diesseitige Welt ist nur ein vorübergehender Aufenthaltsort. Wir sind und bleiben Reisende oder – um es mit einem antiquierten Wort auszudrücken – „Pilger“. Ein „Pilger“ (wörtl. „Fremdling“, von lat. „peregrinus“) ist ein Wanderer im Glauben, der das Leben als die vergleichsweise kurze Durchzugszeit zur himmlischen Herrlichkeit versteht und damit die Zeitlosigkeit jenseits der Zeit zum Ziel hat.

„Die Pilgerreise“

In seinem Weltklassiker „Die Pilgerreise“ von 1678 beschreibt John Bunyan (1628–1688) in einer Vielzahl von Bildern die widrigen Umstände während der Welt-Wanderschaft der Hauptperson des Buches, eines Gläubigen mit dem programmatischen Namen „Christ“. Alle Nöte und Anfechtungen, alle Kämpfe und Widerwärtigkeiten werden für Christ und seine Mitpilger zu einer zeitlichen Leichtigkeit angesichts des ewigen Gewichts des angestrebten Ziels, „indem sie nicht das anschauen, was man sieht (Welt im Chaos), sondern das, was man nicht sieht (Himmel in Herrlichkeit); denn das, was man sieht (Welt im Chaos), ist zeitlich, das aber, was man nicht sieht (Himmel in Herrlichkeit), ewig“ (2Kor 4,18). In gegenseitiger Ermunterung halten sie den Blick froh nach oben gerichtet und setzen ihre Reise Schritt für Schritt gemeinsam fort.(1)

Den Himmel im Visier

Vielleicht will uns der Himmel durch Corona ja an unseren eigentlichen Bestimmungsort, „unser Bürgertum in den Himmeln“ (Phil 3,20) erinnern, an das „Haus des Vaters“ (Joh 14,2). Vielleicht will uns der Himmel durch Corona zum Wesentlichen des Glaubens zurückführen, gewissermaßen als Chance zu einem Neustart, zu einem hingebungsvolleren persönlichen und gemeindlichen Leben.

Jedenfalls leben wir als Kinder Gottes und als Gemeinde nicht horizontal ausgerichtet vor uns hin. Wir haben eine vertikale Perspektive, einen Blick nach oben. Gerade in diesen Corona-Chaos-Tagen dürfen wir daher dankbar „die Häupter erheben“, denn „jetzt ist unsere Errettung (nicht unser Untergang) näher, als … wir geglaubt haben“ (Röm 13,11).

Henoch

Es gibt wohl kaum ein besseres biblisches Beispiel für einen Gläubigen, der von der zukünftigen Herrlichkeit so ergriffen war wie Henoch. Von ihm heißt es lapidar: „Und Henoch wandelte mit Gott“ (1Mo 5,24). Sein gesamtes Glaubensleben fand in notvollen Tagen eine klare Ausrichtung. Henoch lebte zur Zeit Noahs, also in einer ähnlich katastrophalen Zeit wie der heutigen. Jedoch verzagte er nicht, im Gegenteil. Sein Glaubensprogramm war denkbar einfach. Ich gehe mit Gott zu Gottes Herrlichkeit – und genau dahin nahm Gott ihn dann am Ende auch durch Entrückung mit.

Der Theologe Helmut Frey (1901–1982) schreibt dazu: „Mitten in der Welt, die zur Rückkehr zum Staube verflucht ist, [gibt es] Heimkehr in die Heimatwelt des Himmels. … Aus diesem … Todestal wendet sich der todtraurig und hoffnungslos zum Staube gerichtete Blick der Menschheit wieder zum Himmel. [Es] folgt ihm die sehnsüchtige Hoffnung der Menschheit und hört nicht auf, droben die kommende Heimat zu ahnen, bis diese Sehnsucht … schließlich in Jesus … Gewissheit und Erfüllung findet“(2) und wir dann endlich bei ihm „von unseren Mühen und Werken ruhen“ dürfen (Hebr 4,10; Offb 14,13).

Das „Über-uns“

Wir sind auf Hoffnung auf diesen außergewöhnlichen Ort, ein „Über-uns“(3), errettet worden. Aber wir sind noch nicht da. Auf das Beste „warten wir noch mit Ausharren“ (Röm 8,23-25). Das Ziel ist noch „nicht ergiffen“ (Phil 3,12), es ist jedoch zum Greifen nahe. Das Zeitfenster wird immer enger. Wir bewegen uns rapide von der „letzten Zeit“ zu den „letzten Tagen“ und zur „letzten Stunde“ (1Petr 1,5; 2Petr 3,3; 2Tim 3,1-5; 1Jo 2,18). Für nur wenige verbleibende Minuten sind wir noch mittendrin im auseinanderbrechenden Weltgefüge. Aber in dem Bewusstsein, dass wir nicht „von der Welt“, sondern nur „in der Welt“ sind (Joh 17,11-16), erheben wir jeden Tag neu – in Hoffnung und Glauben – unseren Blick über alle Täler des Todesschattens hinaus zur ewigen Herrlichkeit Gottes.

Nach Hause

Und dann – vielleicht heute – kommt jener Tag, an dem sich unsere irdische Hoffnung in himmlische Realität verwandeln wird. Jener Tag, an dem Gott jede unserer Tränen abwischen wird, an dem es keine Pandemie mehr geben wird, keine Schmerzen, keinen Krieg, keinen Terror, keinen Tod, keine Trauer, keine Verdammnis (Offb 21,4; 22,3-5).

Es ist jener „Augenblick“ (1Kor 15,52), an dem sich Braut und Bräutigam Auge in Auge sehen werden. Der Bräutigam steht bereits klopfend vor der Tür. Am Ende der Bibel lässt er seine Braut dreimal wissen: „Ja, ich komme bald.“ Und die Braut, in all ihrer ewigen Schönheit, ruft ihm entgegen: „So sei es! Komm, Herr Jesus!“ (Offb 22,7.12.17.20)

Es wird ein Tag wie jeder Tag sein, doch plötzlich, „mit gebietendem Zuruf, mit der Stimme eines Erzengels und mit der Posaune Gottes“ kommt der Bräutigam „vom Himmel herab, und die Toten in Christo werden zuerst auferstehen; danach werden wir, die Lebenden, die übrig bleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden in den Wolken dem Herrn entgegen in die Luft; und also werden wir allezeit bei dem Herrn sein. – So ermuntert und tröstet nun einander mit diesen Worten.“ (1Thes 4,16-18)

 

In dem Bewusstsein, dass wir nicht „von der Welt“, sondern nur „in der Welt“ sind, erheben wir jeden Tag neu – in Hoffnung und Glauben – unseren Blick über alle Täler des Todesschattens hinaus zur ewigen Herrlichkeit Gottes.
(Martin von der Mühlen)

 

Literatur:

(1) Bunyan, John: „The Pilgrim’s Progress From This World To That Which Is To Come”. Sawyer, Ingersoll & Co. Hudson, Ohio: 1854. (Originally published in 1678)
(2) Frey, Helmut: „Das Buch der Anfänge“. Calwer Vereinsbuchhandlung, Stuttgart: 1940, S. 93.
(3) Brandt, Malvida: „Was ist der Himmel?“ In: Evangelisch-lutherische Kirchenzeitung für Bramfeld und Steilshoop: Ausgabe Juni/Juli/August 2019, S. 6.

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