„Allein die Gnade“ – völlig ohne unser Mitwirken?

Luther sah sich zu seiner Zeit in einem religiösen Konzept gefangen, das auf menschlicher Leistung beruhte, um einen heiligen und gerechten Gott zufrieden zu stellen. Das brachte ihm aber nicht den ersehnten Frieden mit Gott, sondern ließ ihn in Ungewissheit, ob seine religiösen Leistungen bzw. Werke ausreichten. Erst als Luther Gottes Gnade entdeckte und ihre Auswirkungen konkret erlebte, wurde sein Gewissen frei von aller Schuldenlast und er brach durch zu einem durch die Gnade befreiten Leben für Gott. Dazu verhalf ihm allein Gottes Wort, während ihn vorher die Theologen (ausgenommen Augustinus) in die Irre geführt hatten. Wenn also zuvor die Werke betont wurden, so verlegte sich Luther nun konsequent darauf, die Gnade Gottes gegen alle menschlichen Werke zur Geltung zu bringen. Hat er da überzogen? Ist er nur von einem Extrem in das andere verfallen? Hat er die Gnade zu einseitig betont?

Gnade statt Werke – das Erbe des Paulus

Luther hatte zur Schrift zurückgefunden, zum Hören auf das Wort Gottes allein. Besonders in den Schriften des Paulus fand er die ersehnte Klarheit und Orientierung. Kaum ein anderer hat nämlich wie Paulus das Evangelium so tiefgehend bis in die Details dargelegt und erklärt, insbesondere in seinem Brief an die Römer. Aber Paulus steht nicht etwa im Gegensatz zur übrigen Schrift, sondern hebt vielmehr in Übereinstimmung mit der bisherigen göttlichen Offenbarung das hervor, was ihm offenbart wurde, um das Evangelium zur vollen Geltung zu bringen und das Wort Gottes zu vollenden (s. Kol 1,25). Bei Paulus entdeckte Luther die Gnade Gottes und entwickelte auf der Grundlage der Schrift seine Gnadenlehre: Zunächst sieht er Gottes zuvorkommende Gnade, „die ihn wieder aufrichtet, früher als sein ganzer Wille und über sein eigenes Wollen hinaus“. (1)  Sie geht dem Willen des Menschen voraus und befähigt ihn, sich Gott zuzuwenden. Sie wirkt in der Folge dann auch die Einsicht und Anerkennung von Gottes gerechtem Urteil über die Sünde und den Glauben an die in Christus geschenkte Gerechtigkeit. Die Rettung des Menschen geschieht also ohne dessen Mitwirken im Sinne eines Verdienstes, der ihm ein Anrecht auf die Erlösung gäbe. Selbst der menschliche Wille zum Heil ist abhängig von der Gnade. „Der Mensch kann sich daher seine Rettung nicht nur nicht verdienen, er kann nicht einmal gerettet werden wollen. Damit ist der Widerspruch des Reformators gegen die römische Theologie der menschlichen Verdienste auf die Spitze getrieben.“ (2)

Extreme Gnadenlehren heute?

Die Kontroverse um die menschliche Mitwirkung zum Erlangen des Heils ist mit Luther nicht zum Ende gekommen. Calvinisten und Arminianer haben das „Problem“ bis zu uns getragen. Es wird immer noch ein Streit ausgefochten, der jeweils die Extreme betont. Die sog. „fünf Punkte des Calvinismus“ sind ein Beispiel dafür. Diese Gnadenlehre betont die völlige Verdorbenheit des Menschen (tot in Sünden und unfähig, selbst etwas an diesem Zustand zu ändern), die bedingungslose Erwählung (aus der freien und souveränen Wahl Gottes heraus), begrenzte Sühne (Christus erwirkte Sühnung am Kreuz nur für die Erwählten), unwiderstehliche Gnade (die Erwählten können sich der Gnade nicht entziehen) und das Ausharren der Heiligen (Gottes bewahrende Gnade für seine Erwählten). Im Ergebnis wird hier Luthers Gnadenlehre noch überboten, indem nämlich Konsequenzen in Bezug auf weitere theologische Aspekte gezogen werden. Die Gefahr besteht hier nun darin, die menschliche Verantwortung gegenüber einem souveränen und allmächtigen Gott völlig zu vernachlässigen, das biblische Menschenbild um Nuancen zu verschieben und den Wert des Menschen und der gefallenen Schöpfung, die ja Gott nach wie vor aufrechterhält, weitgehend auszublenden.

Und die menschliche Verantwortung?

Für all sein Tun wird der Mensch von Gott in die Verantwortung genommen. Die Lehre der Schrift ist, dass die Werke des Menschen beim letzten Gericht eine Rolle spielen, denn dort werden Bücher geöffnet, „und die Toten wurden gerichtet nach dem, was in den Büchern geschrieben war, nach ihren Werken“ (Offb 20,12). Zwar kann kein Mensch den gerechten Forderungen Gottes genügen und sich durch Werke das Heil verdienen, aber trotzdem wird jeder Mensch für sein Tun zur Verantwortung gezogen. Wenn hier also im Gericht die Verantwortung des Menschen betont wird, warum sollte sie dann in Bezug auf die Annahme des Heils außen vor bleiben? Denn dort geschieht ein Ruf Gottes (2Tim 1,9), erfolgt ein Gebot (Apg 17,30), das eine Reaktion verlangt. Wäre nicht für diese Reaktion, ablehnend oder annehmend, der Mensch verantwortlich zu machen (vgl. 2Thes 2,10)?

Andererseits könnten wir fragen: Wenn alles Tun des Menschen nicht ausreicht, um Gerechtigkeit zu erlangen, kann dann die Erlösung überhaupt von irgendeinem Tun des Menschen abhängig gemacht werden? Müsste Gott nicht deshalb eine vollkommene Erlösung schaffen, die allein auf seinem Tun beruht und sich auswirkt? Wenn also der Mensch verantwortlich ist, dann höchstens dafür, es zu versäumen, sich auf die Grundlage zu stellen, die Gott geschaffen hat. Der Schritt der Übergabe seiner selbst an Gott bestünde im Bild gesprochen allein darin, die Hand auszustrecken, um ergriffen zu werden. Doch wer würde das als Leistung ansehen? Der vollkommenen Erlösung in Christus würde es nichts hinzufügen, was ihm noch fehlen würde.

Gottes Wort beugt einer einschränkenden Einseitigkeit vor

Paulus selbst ist ein gutes Beispiel, um zu verdeutlichen, dass nicht mehr als Gehorsam notwendig ist, dem Ruf Gottes zu folgen. Im Zusammenhang mit den Schilderungen seiner „Bekehrung“ tritt ganz und gar hervor, was Gott tut. Was Paulus selbst tut, drückt er so aus: „Daher, König Agrippa, war ich nicht ungehorsam der himmlischen Erscheinung …“ (Apg 26,19). Paulus’ Hilflosigkeit bei seinem Damaskuserlebnis äußert sich in der Frage „Was soll ich tun, Herr?“ (Apg 22,10) und in den begleitenden Umständen: Erblindet muss er von anderen geführt werden. Nicht er unternimmt etwas, sondern der Herr sorgt für alles Weitere, schickt ihm Ananias, der ihn heilt und ihm den Willen Gottes verkündigt. Paulus bleibt nur zu gehorchen. Die Gnade Gottes zieht ihn, trägt ihn und erhält ihn.

Nach allem, was wir aus der Schrift erkennen können, setzt die Erwählung zwar nicht die Verantwortung des Menschen außer Kraft. Doch andererseits finden wir nirgendwo in der Schrift einen Hinweis, dass aus der Verantwortung des Menschen heraus ein „Mitwirken an der Gnade“ entstehen könnte, das Gott dazu bewegen müsste, einen Menschen gegenüber anderen den Vorzug zu geben. Es ist kein Ansehen der Person vor Gott (Röm 2,11). Alle sind schuldig und werden „umsonst gerechtfertigt durch seine Gnade, durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist“ (3,24).

 

Fußnoten:

1.   Luther, Vorlesung über den Römerbrief, in: Aland (Hrsg.), Luther deutsch, Die Werke Luthers in Auswahl, Band I, Die Anfänge, 2. Aufl., Göttingen 1983, S. 221.
2.  Daniel Facius, http://timotheusmagazin.de/luthers-gnadenlehre-das-herz-der-reformation/

 

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