Was ist Gemeinde?

So kurz diese Frage ist, und so selbstverständlich die Antwort manchem langjährigen Gemeindemitglied erscheinen mag, so unterschiedlich denken Gläubige an verschiedenen Orten darüber. Dabei hat diese Frage durchaus praktische Relevanz: Die einen berichten schon begeistert von ihrer letzten „Gemeindegründung“, wenn sich irgendwo nun vier Leute zum Bibellesen treffen. Andere wollen erst eine 20-Punkte Liste abgehakt sehen, bevor sie einer Gruppe von Christen diesen Status zusprechen können. Oder: Manche verwenden alttestamentliche Aussagen, als sei das Volk Israel die erste Gemeinde gewesen. Andere hingegen sortieren selbst in den neutestamentlichen Briefen noch sehr penibel, was von dem Gesagten zur verbindlichen Beschreibung von „Gemeinde“ herangezogen werden darf.

Wahrscheinlich finden die meisten Leser sich irgendwo zwischen den genannten, aus unserer Sicht einseitigen Standpunkten wieder. Das geht uns ebenfalls so. Es wird da auch eine gewisse Bandbreite geben. Da sich an keiner Stelle der Heiligen Schrift eine fixe Definition dessen findet, was eine Gemeinde ausmacht und wie sie genau auszusehen hat, scheinen Gott eher die Grundzüge, die Prinzipien wichtig zu sein, und nicht so sehr die detaillierten Formen, die Gemeinde zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Kulturen annehmen kann.

Wir verstehen diese Grundzüge eines biblischen Gemeindeverständnisses folgendermaßen:

Langfristig vorbereitet und zu Pfingsten gestartet

Die Geburtsstunde dessen, was das Neue Testament als „Gemeinde“ bezeichnet, war das Kommen des Heiligen Geistes am Pfingstfest (beschrieben in Apostelgeschichte 2). Vorher redet der Herr Jesus von ihr im Futur („Ich werde meine Gemeinde bauen“ – Mat.16,18), danach wird – erst zögerlich, dann immer häufiger – beschrieben, was „die Gemeinde“ tat und wie es ihr erging (Apg. 5,11; 8,1.3; 9,31 etc.).

Dass die Idee „Gemeinde“ erst so spät im Handeln Gottes mit den Menschen verwirklicht wurde, sagt nichts über ihren Wert in den Gedanken Gottes aus. „Gemeinde“ war keine Notlösung, weil das mit Israel schiefgelaufen wäre, sondern von Anfang an von Gott so geplant gewesen (Eph. 1,4; 3,10f ). Wir sehen in der Geschichte Gottes mit seinem irdischen Volk Prinzipien in Anwendung, die dann später im Leben der neu entstandenen Gemeinde wieder eine Rolle spielen sollten – oft in veränderter Form (z.B. die Priesterschaft).

Weil es sich um denselben Gott handelt, und es vorher wie nachher um Menschen mit ihren immer ähnlichen Veranlagungen und Herausforderungen geht, deswegen gibt es einiges an Kontinuität zwischen den beiden Testamenten. Aber weil Gott mit Gemeinde etwas ganz Neues starten wollte, hat er dieses neue Denken mit dem Kommen des Herrn Jesus vorbereitet (z.B. Matt. 5,21f. 27f. 31f ), ihre Gründung angekündigt (Matt. 16,18) und die Jünger Jesu auf den Heiligen Geist als ihren neuen Lehrer, Tröster und Vollmachtgeber hingewiesen (Joh. 14-16; Apg. 1,8).

Als dieser dann kam und begann, durch die Jünger zu wirken, entstand und wuchs Gemeinde. Bis heute. Deswegen lernen auch wir heute hauptsächlich aus dem „Handbuch“ der ersten Christen, den Briefen der Apostel, die mit ihrer Arbeit die Grundlage für Gemeinde gelegt haben (Eph. 2,20). Außerdem orientieren wir uns an dem, was sie aus ihrer Zeit mit Jesus, der im jüdischen Kontext die Mission der Gemeinde vorbereitete, und aus den ersten Jahrzehnten der Gemeindeausbreitung in den Evangelien sowie in der Apostelgeschichte für uns festgehalten haben.

Typisch für Gemeinde

Gemeinde bezeichnet an vielen Stellen im Neuen Testament die Gesamtheit aller an Christus gläubigen und aus der Welt herausgerufenen (daher der griechische Begriff „ekklesia“) Menschen (z.B. Eph. 1,22). An anderen Stellen werden die Christen an einem Ort als z.B. „die Gemeinde Gottes, die in Korinth ist“ (1. Kor. 1,2) angeredet. Sie zeichnet sich durch ihre Einheit trotz vorhandener Vielfalt aus (Eph. 4,1-11), die Vergangenheit und soziale Stellung einer Person spielt dort keine Rolle mehr (1. Kor. 12,12f ). Alle sind vom Geist Gottes für unterschiedliche Aufgaben begabt worden und sollen einander damit dienen (1. Petrus 4,10). Ihr Markenzeichen soll die Liebe zu Gott und zu Menschen sein (Matt. 22,37-40; Joh. 13,34f; 1. Kor. 13; 1. Petrus 4,8). Typisch für diese Nachfolger Jesu war am Anfang, dass sie wo immer möglich von ihrem Meister weitersagten, immer wieder selber auf Gott hörten und mit ihm redeten, dass sie sich im Abendmahl an das große Opfer seines Sohnes erinnerten, dass sie den Menschen um sich herum mit ihren Gaben dienten und füreinander auch praktisch Verantwortung übernahmen (Apg. 2,42-47).

Interessanterweise verwendet Lukas das Wort „Gemeinde“ in seinen ersten Berichten nach ihrer Entstehung eher sparsam. Menschen, die glaubten, ließen sich taufen und „wurden hinzugetan“ (Apg. 2,41). Es wird beschrieben, was „die Gläubig gewordenen“ dann taten und wie sie zu einer Einheit zusammenwuchsen. Weiterhin ist die Rede von „den Ihren“ (Apg. 4,23), „der Menge derer, die gläubig wurden“ (Apg. 4,32), „die, die ihm gehorchen“ (5,32) oder der „Menge bzw. Zahl der Jünger“ (Apg. 6,2.7). Sie waren Gemeinde (Apg. 5,11 bestätigt das), aber der Begriff schien ihnen noch nicht so geläufig zu sein. Viel wichtiger war das, was sie taten und wofür sie standen.

So geht das auch manchem neuen Kreis von Gläubigen heute: sie leben bereits Gemeinde, auch wenn sie noch zögern, sich selber als eine solche zu bezeichnen.

Umgekehrt gab es bereits 90 Jahre später eine Gemeinde, die sich noch so nannte, aber von Gott als „tot“ bezeichnet wurde (Offb. 3,1). Ob alt oder jung, Gott geht es nicht um die Bezeichnung einer Gruppe, sondern um das Leben in ihr.

Offene, aber verbindliche Gemeinschaft

Weder bezeichnete sich die Gruppe der zwölf Apostel je als Gemeinde, noch das Missionsteam von Paulus. Natürlich waren sie Teil der weltweiten Gemeinde Jesu, aber als „Gemeinde“ angeredet wurden immer Gruppen von Gläubigen, die in einer bestimmten Stadt lebten (2. Kor. 1,1; Gal. 1,2; 1. Thes. 1,1) oder sich in einem bestimmten Haus trafen (1. Kor. 16,19; Römer 16,5.23).

Dort gehörten dann alle möglichen Menschen dazu, die durch Umkehr von ihrem alten Leben zu Gott gekommen und wiedergeboren waren: Junge und Ältere (1. Petrus 5,5), Arme und Reiche, Arbeitgeber und -nehmer (damals sogar Sklaven und ihre Besitzer – Eph. 6,5-9), unabhängig von Geschlecht und Nationalität. Die Geschwister der Gemeinden von Jerusalem, Ephesus oder Korinth haben sich sicher nicht immer alle in einem Gebäude zu ihren Aktivitäten getroffen – häufig wird von „in den Häusern“ (z.B. Apg. 2,46; 20,20) gesprochen – aber sie gehörten doch zusammen.

Sie übernahmen Verantwortung füreinander (Apg. 6,1ff ), hatten gemeinsame Älteste (Apg. 20,28), sollten in Einheit leben (1. Kor. 1,10ff ) und unter Umständen auch gemeinsam Gemeindezucht ausüben (1. Kor. 5,1ff ).

Leider hat es seither in der weltweiten Gemeinde Jesu und auch in vielen Ortsgemeinden Spaltungen gegeben. Das einheitliche Bild, das die Gemeinde am Anfang abgab, ist heute sehr zerknittert. Das soll uns aber nicht davon abhalten, die Grundgedanken Gottes da, wo wir leben, soweit wir können umzusetzen.

Auch heute sind wir im Übrigen dankbar für Missionsteams, Studentengruppen, christliche Motorrad- oder Internettreffs u.v.m, die in ihrem Umfeld Menschen für Jesus gewinnen und zu Jüngern machen. Sie sind Arbeitszweige der weltweiten Gemeinde Jesu. Allerdings unterscheiden sie sich wegen ihres speziellen Auftrags mehr oder weniger deutlich von dem, wie uns Gemeinden im Neuen Testament beschrieben werden. Verbindliche Zugehörigkeit und wo möglich Mitarbeit in einer gesunden Gemeinde an ihrem Wohnort wird den Mitgliedern solcher Gruppen die Ausgewogenheit und Unterstützung bieten, die Gott in seine Gesamtgemeinde hineingelegt hat.

In dem Wunsch, das Wesen von Gemeinde möglichst verständlich zu erklären, hat der Heilige Geist neben der Beschreibung ihrer Aktivitäten und den Anweisungen der Apostel auch eine Reihe von Bildern verwendet, die sich quer durch die Briefe des Neuen Testamentes ziehen (z.B. die Gemeinde als Leib oder Braut Christi, als Familie oder Haus Gottes etc.). Sie werden in einem separaten Artikel beschrieben (Biblische Bilder von Gemeinde) und zeigen besonders Gottes Gedanken bzgl. der weltweiten Gemeinde Jesu – mit allerdings deutlichen Implikationen für jede örtliche Gruppe von Gläubigen.

Klare Grundlagen, aber vielfältige Formen

Wenn wir nun zunächst die obigen Beobachtungen zusammenfassen wollen, so könnten wir eine Gemeinde auf örtlicher Ebene folgendermaßen definieren:

  • Eine für jeden wiedergeborenen Gläubigen offene, aber dann verbindlich zusammenhaltende Gruppe von Nachfolgern Jesu,
  • die regelmäßig auf Gott hören, mit ihm reden und ihn verehren,
  • die einander lieben und mit ihren Gaben dienen,
  • die Menschen in ihrer Umgebung mit verständlichen Worten und tätiger Nächstenliebe das Evangelium von Jesus Christus weitergeben und sie zu Jüngern machen.

Für einige dieser Aspekte gibt es klare Anweisungen in der Schrift, wie sie geschehen sollen -beispielsweise dass neue Gläubige getauft werden oder dass wir in Erinnerung an die Liebe Gottes das Abendmahl feiern. Vieles andere bleibt offen – wann wir es feiern z.B., wo und wann und wie lange wir uns wofür treffen sollen, wo wir evangelisieren sollen, welche Lieder wir singen und wie genau wir unsere Mitarbeiter schulen. Da besteht viel Freiheit. Auch hinsichtlich der Leitung einer Gemeinde gibt es einige Grundaussagen, deren Umsetzung aber durchaus unterschiedlich aussehen kann – nur das komplette Fehlen einer geistlichen Leiterschaft wird deutlich als „Mangel“ und „Unordnung“ bezeichnet (Titus 1,5). Wie groß oder klein eine Gemeinde sein muss, um sich als solche zu verstehen, steht hingegen wieder nirgendwo.

Deswegen wollen wir keinen höheren Maßstab für unser Verständnis von Gemeinde anlegen als wir es in all der Vielfalt im Wort Gottes beschrieben finden!

(Zuerst veröffentlicht Oktober 2016)

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