Sola Gratia – allein deine Gnade genügt

Wie Luther die Gnade wiederentdeckte

Die religiöse Situation zur Zeit Luthers ist für den heutigen Menschen kaum vorstellbar. Die Kirche – damals ca. 1400 Jahre alt – stand wie selbstverständlich im Mittelpunkt des allgemeinen Lebens. ln Stadt und Land ragten die Dome in den Himmel und verkündigten einen erhabenen und richtenden Gott. ln ihrem Schatten war die ganze Gesellschaft mit Religion durchtränkt.

Volksfrömmigkeit ohne biblischen Bezug

Obwohl die Volksfrömmigkeit sich vielfältig äußerte, hatte sie mit biblischem Glauben nicht viel zu tun: Entsprechend dem Kirchenjahr wurden zahlreiche Feste gefeiert und Wallfahrten unternommen. Man spendete für Kirchenbauten und bezahlte für die großen Kircheninstitutionen. ln den Häusern hingen eindrucksvolle Andachtsbilder. Durch diese Ikonen wurden fromme Gestalten der Geschichte  weithin bekannt.

Seit alten Zeiten vermittelte der Klerus, dass es nur in der Kirche das Heil gibt. Deshalb konnte keiner darauf verzichten, die heilspendenden Sakramente in Anspruch zu nehmen. Und weil man sich durch Pest und Krankheiten bewusst war, wie allgegenwärtig und unvermeidlich  der Tod war, tat man das recht häufig. Das Seelenheil zu gewinnen war das innerste Verlangen fast aller Menschen. Sie kamen darum ohne Weiteres der Pflicht zur Beichte nach und sorgten sich um die Befreiung von Schuld und Strafe für ihre Sünden. Diese wurde ihnen aber nicht durch die Botschaft von der völligen Gnade durch Jesus Christus vermittelt. Stattdessen verpflichtete die Kirche sie zum Buß-Sakrament und zum Ablass. Die kirchlich ernannten Heiligen und die Gottesmutter konnten aus ihren überschüssigen guten Werken an Bedürftige abgeben. Diesen „Handel” verwaltete der Papst. Wer päpstliche Ablassbriefe kaufte, Wallfahrten nach Rom unternahm oder heilige Reliquien betrachtete, verkürzte das Leiden im Fegefeuer um viele Jahre.

Durchschaute das Volk dieses unbiblische Treiben? Kaum – es riss sich förmlich um die teuren Ablassbriefe, besonders für die schon Verstorbenen.

Und die Gnade?

Wie konnte in Vergessenheit geraten, dass uns die Gerechtigkeit Gottes aus Gnade geschenkt ist? Die im Mittelalter vorherrschende Sicht von der Gnade geht auf den Mönch Pelagius (gest. nach 418 n. Chr.) zurück. Er und seine Anhänger meinten: Der Mensch ist vollständig in der Lage, das Gute zu tun und sogar sündlos zu werden. Er braucht keinen Raum für eine übernatürliche, von innen erleuchtende Gnade Gottes. Augustin (354–430 n. Chr.) widersprach ihm. Er verstand die Gnade als „unbegreiflichen Akt des souveränen Gottes, der zum Heil und zum Unheil auserwählt”. Grundlos beruft Gott Menschen zum ewigen Heil.

Die Lehre von Pelagius wurde verworfen, augustinische Gedanken wurden offizielle Kirchenlehre. Der Mensch hat durch seine Erbsünde ein für allemal seine Freiheit völlig verloren. Seine natürlichen Kräfte können nur Sünde hervorbringen, nichts zum eigenen Heil tun. Glaube entsteht und wächst ausschließlich durch Gnade. Gott allein erleuchtet, wen er will.

Pelagius’ Lehre bleibt lebendig

Aber – es ist wie in der Kindererziehung – was unterdrückt wird, quillt dann doch hervor. Im ganzen Mittelalter war die Auffassung des Pelagius stets lebendig. Nur dadurch konnte sich die Ablasslehre entfalten. Selbst Luther lernte noch von Ockham: Liebe zu Gott muss eine Zerknirschung sein. Begehrende Liebe genügt nicht, sie bereut aus Angst vor der Hölle. Wahre Gottesliebe denkt überhaupt nicht mehr an sich selbst. Erst in diesem Zustand gießt uns Gott seine Gnade ein.

Aber Luther entdeckte – je länger, desto deutlicher –, wie in ihm noch die Eigenliebe steckte, besonders dann, wenn er zutiefst bereute: „Wenn ich am andächtigsten war, so ging ich als Zweifler zum Altar, als Zweifler ging ich wieder von dannen … wir waren in dem Wahn, wir könnten nicht beten und würden nicht erhört, wenn wir nicht ganz rein und ohne Sünde wären … So war ich im Mönchtum ein Wollender und Laufender, aber ich kam je länger je weiter davon …, denn ich kannte Christus nicht anders als einen strengen Richter, vor dem ich fliehen wollte und doch nicht entfliehen konnte.” (1)

Ist Gott gegen mich?

Die Forderung nach einer vollkommenen Reueleistung und die Erkenntnis der persönlichen Unvollkommenheit trieben Luther in schwere innere Kämpfe und Zweifel. Er wollte im Frieden Gottes leben, Gewissheit der Annahme bei Gott bekommen und ein brauchbares Werkzeug Gottes sein. Aber weil ihn alles Mühen nicht dahin brachte, meinte er: Gott ist gegen mich. Er hat mich von seiner Gnade ausgeschlossen. Ich hasse ihn deshalb.

Sein Beichtvater Johann von Staupitz wollte ihm gern helfen. Er riet ihm: „Man muss den Mann ansehen, der da heißt Christus!” Er vermittelte ihm, dass die Gnade nichts mit menschlichen Bußübungen zu tun hat, sondern mit dem gekreuzigten Christus. Aber warum veränderte diese Wahrheit Luther nicht grundlegend? Weil Staupitz nur seelsorgerlich-praktisch half, nicht aber mit tiefer biblischer Erkenntnis, wie sie Luther brauchte. Luther lernte, dass Gott dem Sünder barmherzig begegnet: Gottes Wort erklärt uns nicht nur zu Sündern, sondern spricht uns gleichzeitig durch das Evangelium gerecht, und das ohne Bedingung! Martin Luther wurde mit höchster Freude erfüllt. Jetzt konnte er den Widerspruch lösen: Der gerechte Gott ist in Christus auch der barmherzige  Gott. Alles ist Gottes Geschenk und Gabe. An die Stelle der Rechtsordnung tritt die Gnadenordnung.

Damit fand er den einzigen und persönlichen  Zugang zum verborgenen Herrn der Welt. Damit streifte er alle pelagianische Werkgerechtigkeit und jedes moralistische  Verständnis des Evangeliums ab. Auch die Auffassung von einer mystischen oder sakramentalen Eingießung der Gnade hatte keinen Halt mehr. Er richtete ein unumstößliches Fundament auf: Christus, der den Gottlosen aus Gnade gerecht macht! Christus hat alles für uns getan! Und diese Gewissheit kommt aus dem Wort Gottes, das nicht eine fromme Christenheit erdacht hat, sondern von Gott selbst offenbart wurde. Deshalb können wir uns auch der Gnade Gottes gewiss sein.

 

Fußnote:

(1) M. Luther, zitiert nach A. Sierszyn, 2000 Jahre Kirchengeschichte, Band 3, Holzgerlingen 2000, S. 36

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