Kraftlos? Von wegen! Wie das Evangelium das Leben wertvoll machte

Die Spielregeln unserer Gesellschaft werden von vielen Kräften bestimmt: Politische, wirtschaftliche, ideologische und religiöse Kräfte buhlen um Aufmerksamkeit, Mehrheiten und Geld. Die Kirchen mögen in diesem Konzert der Interessenvertreter ein gewisses Gewicht haben, die Botschaft der Bibel als normgebende Kraft jedoch kaum – wenigstens nicht hier bei uns und in der westlichen Welt überhaupt.

Das war nicht immer so. In unserem Grundgesetz finden sich Aussagen, die ohne die Wirkungsgeschichte des Evangeliums nicht denkbar sind. Was im Artikel 1 über die Würde des Menschenlebens geschrieben steht, ist die geradlinige Anwendung einer christlichen Werteethik: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Als vor knapp 2000 Jahren die ersten Christen Jerusalem verließen und mit dem Evangelium durch das römische Reich zogen, kamen sie auch in die Hauptstadt Rom. Die römische Herrschaft hatte lange Arme, die auch bis nach Jerusalem reichten. Die Zustände in Jerusalem waren aber nicht vergleichbar mit den ethischen Verhältnissen, die die Christen im Machtzentrum Rom erlebten. Im Judentum gab es durch das Gesetz eine alte Kultur der Menschenwürde. Das war Rom fremd. Ihre religiösen Vorstellungen vermittelten keine Ethik. Das Leben eines Menschen zählte wenig. Das Leben eines Sklaven, Gefangenen oder Sträflings gar nichts. Daran konnten die Christen direkt nichts ändern, obwohl sie es abstoßend fanden. Aber ihr verändertes Leben, ihre neue Ethik und schließlich die Glaubensüberzeugungen einzelner Kaiser haben die römische Gesellschaft gründlich umgekrempelt.

An zwei Beispielen wird dies besonders deutlich:

Das Ende der Gladiatorenspiele

Als Titus im Jahr 80 nach Christus das Kolosseum einweihte, wurden an einem einzigen Tag 5000 Tiere und unzählige Gladiatoren getötet – einfach so zum Spaß der Zuschauer. Das war aber nur einer von 100 Tagen. So lange zogen sich die Einweihungsfeierlichkeiten damals hin. Wer hat sich das überhaupt angesehen? Was muss man für ein Gemüt haben, sich daran zu ergötzen, wie sich Menschen gegenseitig zerlegen? Es waren alle. Das ganze normale Volk. Männer und Frauen, Mütter und Väter. Sie alle fanden es toll. Seneca hat als Augenzeuge das Gebrüll der Zuschauer notiert: „Töte ihn, peitsche ihn, verpasse ihm Wunden! Warum duckt er sich? Warum kämpft er so lahm? Warum stirbt er nicht anständig? Peitsche ihn, wir wollen Blut sehen“.

Als die ersten Christen nach Rom kamen, gab es diese Spiele schon 300 Jahre. Sie waren Tradition, Kulturgut. Ja, sie waren ein Spiegelbild der gnadenlosen Kultur – die den Christen zuwider war. Aber was konnten ein paar einfache Leute daran ändern? Nichts. Aber sie besuchten diese Veranstaltungen nicht. Kirchenväter schrieben Briefe an die Christen und ermahnten sie, diese menschenverachtenden Spiele nicht zu besuchen und auch das Fleisch der getöteten Tiere nicht zu essen. Die Zahl der Christen nahm zu, das Interesse an den Spielen ab. Unter Theodosius I. schließlich wurden sie am Ende des 4. Jahrhunderts im oströmischen Reich abgeschafft, unter seinem Nachfolger auch im weströmischen Reich. Der irische Historiker W.E.H. Lecky schreibt dazu: „Kaum eine Reform in der moralischen Geschichte der Menschheit ist so bedeutsam gewesen wie die Abschaffung der Gladiatorenspiele, die fast vollständig auf das Konto der christlichen Kirche geht.“

Kinder als Geschöpfe Gottes

Auf einer alten Darstellung ist zu sehen, wie Fischer aus dem Tiber in ihren Netzen ertränkte Säuglinge ziehen. In der griechisch-römischen Kultur war es „erschreckend normal“ – so ein Historiker – unerwünschte Kinder zu töten. Besonders missgebildete und schwache Säuglinge waren gefährdet. Und Mädchen. Romulus und Remus, ein Brüderpaar, der Sage nach die Gründer Roms, waren als Säuglinge in den Tiber geworfen worden und hatten überlebt. Sagen sind natürlich keine Berichte, aber häufig haben sie einen geschichtlichen Bezug. Mit dieser Praxis war die griechischrömische Kultur nicht allein. Kindestötungen sind aus vielen Kulturen bekannt. Und nicht nur in der Antike.

Andere Eltern, die ihre unerwünschten Kinder loswerden wollten, setzten sie einfach aus und hofften, dass sich irgendjemand über sie erbarmen würde. An Brunnen, Märkten, Dorfplätzen – also da, wo viele Menschen hinkamen, legten sie die Kinder ab. Und wenn sie schon niemand mitnahm, dann gab es da vielleicht eine Amme, die den Säugling etwas Milch trinken ließ.

Ob nun die Kinder abgetrieben oder nach der Geburt getötet wurden: Beides war in den Augen der Christen Mord. Und Kinder aussetzen kam für sie auch nicht im Frage. Was trieb sie an, ein kleines Menschlein anders zu achten als ihre heidnischen Zeitgenossen? Es gibt mehrere Triebkräfte, sie kommen aber alle aus der gleiche Quelle: Aus dem Schöpfungsbericht wussten sie, dass jeder Mensch im Bild Gottes geschaffen ist und allein deshalb schon Würde hat – völlig unabhängig von Alter, Geschlecht und Nutzen. Dazu kommt der Zaun, der im fünften Gebot des Dekalogs um das menschliche Leben gebaut wird: „Du sollst nicht töten!“. Dem Menschen wird das Recht entzogen, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen. Und schließlich war es auch die Wertschätzung, die Jesus den Kindern entgegenbrachte: „Lasst die Kinder zu mir kommen; hindert sie nicht daran! Denn gerade für solche wie sie ist das Himmelreich.“ Auf dieser stimmigen, breiten Grundlage haben die christlichen Lehrer mit Überzeugung gegen die übliche Praxis gekämpft. So schreibt Paulus im Brief an Titus, dass die jungen Frauen ermahnt werden sollen, ihre Kinder zu lieben. Auf dem Hintergrund der Zeitgeschichte ist diese Ermahnung gut verständlich, denn die, die Christen geworden waren, brachten natürlich ihre alten Wertvorstellungen mit – die sie nun ablegen sollten.

Aber man behielt seine Ansichten nicht für sich, sondern nahm die Auseinandersetzung mit dem Mainstream in Angriff. Einer der Kirchenväter, Clemens von Antiochien, wirft am Anfang des 3. Jahrhunderts den Römern vor, junge Vögel und andere Tiere zu schützen, aber ihre eigenen Kinder auszusetzen.

Die junge christliche Kirche lehrte anders, und nach und nach lebte sie auch anders. Man begann, die ausgesetzten Kinder in Familien unterzubringen oder vermittelte sie an kinderlose Paare. Für manche wurde die Betreuung elternloser Kinder zur Lebensberufung. Diese gelebte Ethik schaffte keine schnelle Veränderung, aber langfristig blieb sie nicht ohne Wirkung. 374 wurde erstmals die Abtreibung, die Tötung und das Aussetzen von Kindern im römischen Reich unter Strafe gestellt – was bis dahin alles legal war.

Es würde ganze Bücher füllen, die Wirkungsgeschichte des Evangeliums zu beschreiben. Hier ging es zunächst um die Menschenwürde, die ihre Begründung im jüdisch-christlichen Menschenbild hat. Ein wenig besorgt muss man die Frage stellen, was aus einer Gesellschaft wird, die auf den Errungenschaften einer christlichen Werteordnung steht, aber weder an Gott als die Quelle dieser Ordnung glaubt, noch seinem Wort eine normative Kraft zuerkennt. Wohin führt die Reise, wenn diese Kräfte Gesetze machen?

„Die Würde des Menschen ist unantastbar …“ Dieser Satz ist so mächtig, dass er selbst unantastbar ist. Aber es ist so ähnlich wie bei dem Holzbock, der in einem alten Fenster unseres Hauses genagt hat: Von außen wirkte das Holz unbeschädigt. Aber im Inneren hat das Tier seine Gänge durch das Holz gefressen. So etwa ist es mit der Menschenwürde. Sie wird eifrig beschworen und dabei ausgehöhlt. Der riskanteste Lebensabschnitt eines Menschen ist heute die Zeit im Mutterleib. Juristisch sauber ist geregelt, dass der Mensch dort straffrei getötet werden darf. Und im Blick auf das Lebensende werden auch Varianten diskutiert, wie und unter welchen Umständen das Leben beendet werden darf. Unsere europäischen Nachbarn haben in dieser Hinsicht längst Fakten geschaffen.

Es ist richtig, dagegen die Stimme zu erheben, wie es etwa beim „Marsch für das Leben“ geschieht. Den Prozess der Demontage wird das nicht aufhalten. Eigentlich kann daran nur Mission etwas ändern. Denn es war das veränderte Leben und die aus der Heiligen Schrift gespeisten Überzeugungen tausender Menschen, die die römische Gesellschaft so nachhaltig verändert haben.

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